Eine Frau sitzt an einem Tisch und schaut auf ein Buch.
Arbeiterkinder haben es schwerer, sozial aufzusteigen, als Kinder mit Akademikereltern – die Doku "Das falsche Versprechen vom Aufstieg" beleuchtet Deutschlands Weg in eine Klassengesellschaft. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Neue Doku in der ARD Mediathek Ist Deutschlands Klassengesellschaft demokratiegefährdend?

22. Januar 2025, 09:34 Uhr

Kinder aus ärmeren Familien müssen in Deutschland eine Menge Hürden überwinden, um sozial aufzusteigen. Einige Grenzen sind unüberwindbar, wie die MDR-Dokumentation "Das falsche Versprechen vom Aufstieg" in der ARD Mediathek zeigt. Anhand von Biografien führt sie vor Augen, wie sehr unsere Gesellschaft auf dem Weg in eine Klassengesellschaft ist – und wie schnell Kinder in eine Schublade gesteckt werden, aus der sie kaum herauskommen. Aber die Doku macht auch Hoffnung, dass es vielleicht anders werden könnte.

1. Ehrliche Protagonist*innen

In Deutschland besteht keine Chancengleichheit, Deutschland ist eine Klassengesellschaft. Die das sagen, spürten und spüren es bis heute am eigenen Leib – Frauen und Männer zwischen 27 und 41, die bis heute verschuldet sind, weil sie nach höherer Bildung streben. Weil sie wissbegierig sind und sich entwickeln wollen, weil unsere Gesellschaft ihnen Steine in den Weg legt und weil sie nicht auf die Netzwerke ihrer Eltern zurückgreifen können.

Marlen Hobrack: eine junge blonde Frau im blauen Pullover blickt in die Kamera.
Schriftstellerin und Journalistin Marlen Hobrack aus Bautzen hat den sozialen Aufstieg geschafft – bezahlt aber bis heute dafür. Bildrechte: MDR

So erzählt Marlen Hobrack aus Bautzen, die heute als Schriftstellerin und Journalistin arbeitet, in der Doku "Das falsche Versprechen vom Aufstieg" von ihrer Herkunft aus einer armen Familie. Die Mutter arbeitete lange Jahre als Reinigungskraft und versucht, zu Hause den Kindern alles zu bieten – bis die Welt aus Mahnungen und ungeöffneten Rechnungen zusammenbricht. Und Marlen Hobrack, die Klassenbeste in der Grundschule, beschließt, mit der Gesellschaft nichts mehr zu tun haben zu wollen. Sie geht drei Jahre lang nicht zur Schule. Dann macht sie doch das Abitur und studiert. Und ist bis heute verschuldet, wegen ihres Studienkredites und einem Zinssatz von acht Prozent. Sie sagt:

Herkunft klebt wie Scheiße am Schuh.

Marlen Hobrack, Schriftstellerin

Natalya Nepomnyashcha kommt mit elf Jahren mit ihrer Familie aus Kiew nach Bayern. In Deutschland darf sie trotz sehr guter Noten kein Gymnasium besuchen. Studieren kann sie deshalb später nur in Großbritannien – Unterstützung aus Deutschland gibt es dafür nicht. Auch Jörg Theobald aus der Pfalz wird mit seinem Wunsch, auf das Gymnasium zu gehen, nicht ernstgenommen – er solle doch auf den Bau gehen, da suchen sie immer Leute, entgegnet man ihm stattdessen.

2. Der Film legt den Finger in die Wunde – Deutschland ist eine Klassengesellschaft!

Wissenschaftler*innen und Soziolog*innen sagen im Film sehr klar – unser Bildungssystem ist demokratiegefährdend! "Deutschland ist eine Erbengemeinschaft und ich finde das sehr, sehr gefährlich …", sagt Martyna Linartas, Politikwissenschaftlerin an der FU Berlin, die zu Ungleichheit forscht. Sie verweist auf den Bildungstrichter, wonach es rund 80 Prozent der Kinder aus Akademikerfamilien auf die Uni schaffen; aus Nicht-Akademikerfamilien sind es nur rund 25 Prozent der Kinder.

Martyna Linartas: Eine Frau mit langem blonden Haar und schwarzer Kleidung sitzt auf einem Stuhl und wird vor der Kamera interviewt.
Die Poltikwissenschaftlerin Martyna Linartas forscht an der FU Berlin zu Ungleichheit. Bildrechte: MDR

Es kommt in Deutschland offenbar mehr auf die Herkunft an, als auf Engagement und Leistung. Eine Schlussfolgerung, die aufrüttelt. Soziologe und Elitenforscher Michael Hartmann konnte in einer Studie nachweisen, dass selbst nach Erlangung eines Doktorgrades die Herkunft darüber entscheidet, wer weiter Karriere macht – "die Kinder von Geschäftsführern und Vorstandsmitgliedern haben eine 17-mal so große Chance, eine Vorstandsposition an einem der 400 größten Unternehmen zu kriegen."

3. Prominente Geschichten

Im Film erzählt Scott Wempe, Nachfolger in fünfter Generation des Familienunternehmens und Juweliers Wempe, von seiner behüteten Welt, von finanzieller Sicherheit und seiner Schulzeit auf einem englischen Elite-Internat. "Ökonomisches, kulturelles, soziales Kapital, das wird einem auf einmal bewusst, aber dir ist nicht so bewusst, dass es anderswo so anders ist und dass du vom Gedankengut her in dieser elitären Echokammer bist, wo einfach so viel von außen nicht reindringt. Das sind immer eben die top one percent."

Stephanie zu Guttenberg, Unternehmerin und Buchautorin, erinnert sich an ihre Zeit auf der staatlichen Schule. Sie kritisiert, dass das System Schule in Deutschland so behäbig sei. "Das hat eine Veränderungsgeschwindigkeit, die dem Vatikan gleichkommt." Es fehlt an einer Lobby für Bildung. "Jede Legehenne hat mehr Lobby in Deutschland als ein Schüler", sagt zu Guttenberg.

Blonde Frau steht mit verschränkten Armen vor großem Fenster. Sie blickt entschlossen in die Kamera.
Die Unternehmerin Stephanie zu Guttenberg fordert eine Lobby für Schüler*innen. Bildrechte: Copyright Hoferichter & Jacobs GmbH

Und der ehemalige SAP-Personalmanager Cawa Younosi spricht von Herkunfts-Scham. Er hat selbst lange seine afghanischen Wurzeln verheimlicht. Auch er kritisiert den Bildungstrichter in Deutschland. "Es ist unwahrscheinlich, dass ausgerechnet die Kinder der Akademiker mit der entsprechenden Intelligenz und Ausstattung zur Welt kommen und die anderen nicht." Er findet, es gibt eindeutig ein Problem im Bereich Chancengerechtigkeit – obwohl doch im Gesetz steht, dass alle die gleichen Rechte haben.

4. Zeigt Blockaden des sozialen Aufstiegs

Elitenforscher und Soziologe Michael Hartmann geht in die Geschichte zurück – das deutsche Schulsystem habe das Obrigkeitsdenken in Deutschland gefördert. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges haben die Amerikaner deshalb versucht, ein neues Schulsystem zu etablieren, mit möglichst langem gemeinsamen Lernen der Kinder. Doch das Establishment in Deutschland zögerte die Veränderungen hinaus. "Und dann haben sie zu ihrem Glück etwas gehabt, was dem ganzen politisch Rückenwind verliehen hat – in der sowjetischen Zone ist das System eingeführt worden. Und damit konnte man sagen, sozialistische Einheitsschule – das machen nur die Bolschewiken!"

Ein älterer Mann mit weißem Haar und Bart spricht und gestikuliert in einer Interviewsituation.
Elitenforscher Michael Hartmann sieht die Verantwortung für Chancenungerechtigkeit im deutschen Schulsystem. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Heute braucht es in Deutschland bis zu sechs Generationen, um aus Armut in die Mitte der Gesellschaft aufzusteigen. In Dänemark sind es nur zwei Generationen.

5. Jetzt ist Veränderung möglich

Weil am 23. Februar gewählt wird. Und weil an der Urne entschieden wird, welche Wege Deutschland in Zukunft gehen wird: Wieviel Chancengleichheit ist gewollt? Wieviel Aufstieg wird sozial Schwachen und Migranten erlaubt? Wie sehr wird künftig auf Herkunft und Klasse Wert gelegt? Der Film ist brisant vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen – und fokussiert auf die demokratischen Grundwerte, auf die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz. Und genau deshalb hat Protagonistin Natalya Nepomnyashcha im vergangenen Jahr das Bundesverdienstkreuz erhalten – weil sie durch ihr "Netzwerk Chancen", das sie ehrenamtlich leitet, Menschen aus finanzschwachen und nicht-akademischen Familien sozialen Aufstieg ermöglichen will.

Eine Frau mit kurzem dunklen Haar spricht selbstbewusst in ein Mikrophon.
Natalya Nepomnyashcha leitet das "Netzwerk Chancen", das junge Menschen beim sozialen Aufstieg unterstützt. Bildrechte: MDR

Redaktionelle Bearbeitung: Viktoria Adler, Cornelia Winkler

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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | "Das falsche Versprechen vom Aufstieg" | 22. Januar 2025 | 20:15 Uhr

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