Neue Doku Autorin Marlen Hobrack: "Der Klassenkampf hat sich auf die Schulen verlagert"
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22. Januar 2025, 11:35 Uhr
In ihren Büchern "Klassenbeste" und "Erbgut" hat die Leipziger Autorin Marlen Hobrack aus persönlicher Sicht darüber geschrieben, welche Rolle unsere Herkunft für unseren Werdegang spielt. Nun ist sie eine von mehreren Protagonistinnen in der MDR-Dokumentation "Das falsche Versprechen vom Aufstieg". Bildungschancen, sagt Hobrack im Interview mit MDR KULTUR, blieben vielen Menschen auf gleich mehreren Ebenen verwehrt. Und dazu würden sie auch verbal ausgegrenzt werden.
- Die 1986 geborene Autorin Marlen Hobrack ist eine der Protagonistinnen in der Doku "Das falsche Versprechen vom Aufstieg".
- Sie spricht darüber, dass Bildungsaufstieg nicht automatisch auch zum ökonomischen Aufstieg führt.
- Die Leipziger Autorin erzählt auch von ihren eigenen Erfahrungen als junge, alleinerziehende Mutter.
MDR KULTUR: In der Doku "Das falsche Versprechen vom Aufstieg" sagen Sie als Protagonistin, Herkunft sei eine Brille, die uns Dinge aus anderer Perspektive sehen lasse. Kann man die Brille vielleicht auch einfach abnehmen?
Marlen Hobrack: Mit Sehhilfen ist es ja so: Wenn man sie ganz abnimmt, sieht man gar nichts mehr. Aber im besten Falle ist es so, dass man ein bisschen hin und her wechseln kann zwischen den Brillen oder den verschiedenen Perspektiven.
Tatsächlich glaube ich, dass Herkunft gerade dann, wenn man vielleicht aus der Arbeiterklasse stammt oder aus einer weniger privilegierten Klasse, einen anderen Blick auf Gesellschaft insgesamt und auch auf Aufstiegserzählungen ermöglicht. Weil man eben sieht, dass diese einfache Idee von "Streng dich an, dann wirst du es schaffen" doch nicht für alle funktioniert. Menschen strengen sich ja an und trotzdem klappt es irgendwie nicht so mit dem Aufstieg.
Wie schauen Sie denn mit Ihren eigenen Erfahrungen auf Bildungs- und Aufstiegschancen in diesem Land?
Ich konnte an meiner eigenen Bildungsbiografie sehen: Den Bildungsaufstieg zu schaffen, das ist eben nur das eine, das ist nur ein Teil des Aufstiegsversprechens. Damit allein ist es noch nicht gemacht. [...] Ich selbst habe das erlebt. Nach meinem Studium war ich alleinerziehende Mutter und habe sehr prekär gelebt.
Nicht jeder kann diesen Bildungsaufstieg vollziehen, weil er eben nicht nur von Intelligenz abhängt. Und zweitens übersetzt sich der Bildungsaufstieg nicht zwangsläufig in materiellen Wohlstand, weil man nicht unbedingt unter allen Umständen Bildungskapital in ökonomisches Kapital umwandeln kann. Denn das hängt auch von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab.
Welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen würden denn dazu führen, dass ein Bildungsaufstieg zugleich auch einen ökonomischen Aufstieg bedeuten kann?
Wenn wir zum Beispiel im Moment die Situation haben, dass fast 50 Prozent eines Jahrgangs von Schülern Abitur machen, dann entwertet das das Abitur natürlich insofern, als einfach viele Menschen diesen Bildungsabschluss haben. Also braucht man danach ein Studium. Und dann haben viele Menschen meiner Generation gehört: "Na ja, der Bachelor ist irgendwie auch noch kein richtiger Abschluss." Man braucht schon einen Master und auch der ist irgendwie gar nicht so vollwertig wie ein Magister oder ein Diplom. Und dann merkt man auf einmal, man hat den Abschluss gemacht und sucht eine Stelle.
Ich habe 2011 meinen Bachelorabschluss gemacht. Damals war es unglaublich schwer, auch mit Studium einen Job zu finden, weil es gerade gesamtgesellschaftlich eine schwierige ökonomische Situation war. Wir reden heute ganz viel über Fachkräftemangel. Das ist natürlich eine andere Situation. Wenn man Arbeit findet, aber die Stellen nicht so gut bezahlt sind.
Und ich habe die Erfahrung in Ostdeutschland gemacht, dass auch so viele Jahrzehnte nach der Wende man noch ganz oft hört: Na ja, hier im Osten können wir eben nicht dieselben Löhne wie im Westen zahlen, so dass man dann das Gefühl hat: Man hat zwar denselben Bildungsabschluss und Studienabschluss, aber bekommt andere Löhne, weil man eben im Osten lebt.
Schauen wir noch auf andere Faktoren: Wie zum Beispiel funktionieren Mechanismen wie Demütigung, Diskriminierung, Herablassung? Vielleicht nennen wir es auch fehlende Förderung, Unterstützung von Seiten der ökonomisch und sozial Bessergestellten. Gibt es da eine Lücke?
Ja, es gibt auf jeden Fall eine Lücke. Ich glaube inzwischen, dass sich so ein gewisser Klassenkampf, den es in der Gesellschaft immer gibt, auf die Bildungsstruktur, auf die Schulen verlagert hat. Also dass besser Gebildete und auch besser Verdienende ganz massiv versuchen, ihren Kindern die entsprechenden Aufstiegschancen zu ermöglichen.
Und immer wenn Bildungsstudien erscheinen und eben der Zusammenhang von elterlichem Einkommen und dem Bildungsabschluss der Kinder dargestellt wird, sieht man: Das wird so ein bisschen von sich geschoben, und man sagt, das hat gar nichts mit Ungleichheit zu tun, sondern ärmere Eltern sind einfach schlechter darin, ihre Kinder durch die Schule zu bringen. Es wird als elterliches Versagen dargestellt.
Schule ist eben nicht nur ein Spiegel der Klassengesellschaft, sondern reproduziert sie auch.
Ich habe in meinem Buch "Klassenbeste" über solche Narrative geschrieben. Man sagt: Na ja, Menschen, die arm sind oder vielleicht von Bürgergeld leben, die haben ja ganz komplexe Probleme. Vielleicht sind sie alkoholabhängig, vielleicht können sie sich einfach nicht richtig um die Kinder kümmern. Das heißt, es werden so Erzählungen darum gesponnen, was manche Eltern können und andere Eltern eben nicht können.
Und wir gucken zu wenig auf die strukturellen Aspekte, dass Schule eben nicht nur ein Spiegel der Klassengesellschaft ist, sondern sie auch reproduziert. Und indem wir Eltern beschämen, dass sie angeblich eben sich nicht gut genug um die Kinder kümmern, erreichen wir natürlich, dass wir das auch vor uns selbst ein Stück weit rechtfertigen, warum manche Kinder später im Leben erfolgreich sind und andere eben nicht.
Und diesen Klassenkampf oder auch dieses gegenseitige demütigen, haben Sie das selber erlebt?
Ich habe zum Beispiel meinen Sohn sehr jung bekommen – mit 19 – und hab schon gemerkt, dass wenn man als alleinerziehende, sehr junge Frau vor Lehrern auftritt, dass man dann erstmal weder der Mutter noch dem Kind sonderlich viel zutraut. Das heißt, man stößt auf größere Widerstände und Vorurteile. Und umgekehrt.
Als ich eingeschult wurde, in der Grundschule war, wurde meine Mutter verbeamtet. Also, sie hat den Aufstieg vollzogen. Sie kam aus einem bildungsfernen Elternhaus, hatte nur einen Neunte-Klasse-Abschluss, wurde aber verbeamtet. Und natürlich hat niemand daran gezweifelt, dass ich dann aufs Gymnasium gehöre.
Und ich glaube, dass diese Vorurteile, was den sozialen Hintergrund der Eltern anbelangt, ganz oft wirken, natürlich auch in Lehrern. Und das nicht aus Boshaftigkeit, dass sind natürlich gesellschaftliche Vorurteile, Stereotype, die wir manchmal ganz unbewusst übernehmen.
Informationen zum Film:
"Das falsche Versprechen vom Aufstieg"
Dokumentation, MDR, 2025, 89 Minuten
Sendetermin: Mittwoch 22.01.2025 um 20:15
Zu finden ist der Film auch in der ARD-Mediathek
Quelle: MDR KULTUR, Redaktionelle Bearbeitung: tis, lm
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 22. Januar 2025 | 08:40 Uhr