Bildung Quereinsteiger als Lehrer: Warum es ohne sie nicht geht, der Personalmangel aber bleibt
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13. Oktober 2023, 17:08 Uhr
Der Anteil von Seiteneinsteigern unter Lehrerinnen und Lehrern nimmt immer weiter zu und beträgt nun schon fast zehn Prozent. Den Lehrkräftemangel behebt das aber nur zum Teil.
Fast jede zehnte Lehrkraft an allgemeinbildenden Schulen ist über den sogenannten Seiten- oder Quereinstieg in den Beruf gekommen. Das geht aus den neuesten Zahlen für das zurückliegende Schuljahr 2022/23 hervor. An Berufsschulen war es ein Jahr zuvor (neuere Zahlen liegen noch nicht vor) sogar jede fünfte Lehrkraft, die kein herkömmliches Lehramtsstudium abgeschlossen hat.
An den allgemeinbildenden Schulen (also Grund- und Oberschulen sowie Gymnasien) sind Seiteneinsteiger vor allem in den ostdeutschen Bundesländern stark vertreten. Spitzenreiter ist Brandenburg mit 21,6 Prozent, aber auch Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt liegen deutlich über dem gesamtdeutschen Schnitt. So könnte man für unsere drei Länder konstatieren: Etwa jede siebte Lehrkraft in allgemeinbildenden Schulen kam über den Seiteneinstieg in den Beruf.
Wer sind sie aber, diese Seiteneinsteiger? Immerhin, so viel weiß man: Mehr als zwei Drittel sind Frauen, nämlich 68,9 Prozent. Damit ist die Frauenquote fast so hoch wie in der Lehrerschaft insgesamt (73,1 Prozent). Darüber hinaus ist die deutschlandweite Datenlage aber dünn, sehr dünn sogar.
Axel Gehrmann ist Professor an der Technischen Universität (TU) Dresden. Der Lehrkräftemangel und der Seiteneinstieg ins Lehramt sind zwei seiner Lieblingsthemen. Unter anderem ist Gehrmann an der TU verantwortlich für die sogenannte "Berufsbegleitende Qualifizierung von Lehrkräften", also das "Nachstudium" der Seiteneinsteiger, wenn man so will.
Und er ist ein großer Kritiker der dünnen Datenlage auf diesem Gebiet, für das es, wie er feststellt, keine übergreifende wissenschaftliche Beobachtung gibt. "Ein relativ realistisches Bild zu den schon heute eingesetzten Quer- und Seiteneinsteigenden fehlt", so Gehrmann. "Und auch ist mehr als undeutlich, wie sie diesen alternativen Weg überhaupt eingeschlagen haben."
Lehrerberuf: Der typische Seiteneinsteiger ist 38 Jahre alt
Wenn es schon keine Daten für ganz Deutschland und auch keine für ganz Sachsen gibt, so wollte man doch wenigstens für einen der drei sächsischen Qualifizierungsstandorte (eben die TU Dresden) wissen, mit wem man es da typischerweise zu tun hat beim Seiteneinstieg. Also hat die TU mehrere hundert von "ihren" Teilnehmerinnen und Teilnehmern Fragebögen ausfüllen lassen.
Seitdem weiß man außer dem auch hier vorgefundenen Frauen-Männer-Verhältnis von 2:1 noch einiges mehr: Die übergroße Mehrheit ist 31 bis 45 Jahre alt, Durchschnittsalter 38. In ihrem "früheren Leben" hatten mehr als 37 Prozent ein Studium der Geistes-, Kultur- oder Sozialwissenschaften absolviert, etwa 30 Prozent kommen von einem MINT-Fach (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften), und etwa ein Viertel hatte einen Abschluss im Bereich Erziehungswissenschaften, meist "Soziale Arbeit".
Die neue Oberschullehrerin - Seiteneinstieg in den Lehrerberuf aus der Wissenschaft
Annika Kirchhoff passt ziemlich genau in dieses Schema. Die Leipzigerin hat ursprünglich Kommunikations- und Medienwissenschaften sowie Amerikanistik studiert und später in verschiedenen Projekten und auch an der Uni gearbeitet, aber immer waren es prekäre, projektbezogene Anstellungsverhältnisse, wie sie sagt. Die fehlende Zukunftssicherheit war für sie aber nicht der einzige Grund für den Neuanfang. Sie will Kindern etwas ermöglichen: "Der Hauptgrund war, dass ich viel im Bereich Chancengleichheit gearbeitet hatte, aber immer mit Erwachsenen. Und dann hab ich gedacht: Ja, Moment mal, Chancengleichheit geht ja aber eigentlich schon viel früher los, nämlich bei Kindern und in der Schule."
Annika Kirchhoff war 35, als sie sich 2018 für den Seiteneinstieg bewarb und auch genommen wurde. Englisch wurde ihr als bereits studiertes Fach angerechnet. Während der dreimonatigen Grundausbildung, die es in Sachsen gibt, merke man dann schon, ob es das Richtige sein könnte, sagt sie. Für sie war es das, manche andere springen in dieser Zeit aber auch ab. Weil man das in drei Monaten recht gut für sich selbst erkennt, findet die Leipzigerin das sächsische Modell auch besser als kürzere "Probezeiten" in anderen Bundesländern.
Heute ist Annika Kirchhoff verbeamtete Lehrerin an einer Leipziger Oberschule. Ihr zweites Unterrichtsfach, das sie im Zuge der Ausbildung "nachstudiert" hat, ist Deutsch als Zweitsprache (DaZ). "Ich kann von mir sagen, dass ich echt gut angekommen bin in dem Beruf", stellt sie zufrieden fest, auch wenn es "ein komplett anderes Arbeiten als alles, was ich vorher gemacht habe" sei.
Ich habe selber jemanden zu Hause sitzen, der so rumspinnt wie du gerade.
In Annika Kirchhoffs Kollegium an der Oberschule gibt es relativ viele Seiteneinsteiger, erzählt sie. "Ich finde, das ist tatsächlich sehr gewinnbringend für das Schulwesen, weil wir auch aus der Praxis berichten und neuen Input geben können, selbst jetzt noch nach fünf Jahren." Sie selbst ist froh, nicht den klassischen Weg der Lehrerausbildung gegangen zu sein "aus der Schule in die Schule, wieder in die Schule", wie sie es nennt, "weil ich so auch viel besser mit Widerständen umgehen und die auch mal wegatmen kann."
Mit den Schülerinnen und Schülern komme sie in schwierigen Momenten auch deshalb gut klar, "weil ich einfach genügend Erfahrung mitbringe, um mir sagen zu können: Ja, kenne ich alles schon, ich habe selber jemanden zu Hause sitzen, der so rumspinnt wie du gerade", erzählt sie und betont, dass sie das ganz liebevoll meint.
Lehrer: Quereinsteiger bringen mehrere Vorteile mit
Genau das sieht auch Wissenschaftler Axel Gehrmann als größten Vorteil der Seiteneinsteiger gegenüber den meist deutlich jüngeren grundständig ausgebildeten neuen Lehrkräften. Seiteneinsteiger sind "aus dem Gröbsten raus und stehen mit beiden Beinen im Leben", wie er sagt. Partnersuche und Familiengründung sind normalerweise längst abgeschlossen. Und die Entscheidung für den Beruf werde laut Gehrmann seltener revidiert, "denn sie ist viel bewusster gefallen als vielleicht bei den Regelstudierenden".
Außerdem tragen Seiteneinsteiger laut Gehrmann zu einem "generationalen Lückenschluss" in den Lehrerkollegien bei. Viele Lehrkräfte seien deutlich älter. Wenn sie aufhören, werden vermutlich viele Jüngere nachrücken. Aber die Generation um die 40 sei unterrepräsentiert.
Schülerzahlen steigen, Lehramtsabschlüsse sinken
Die Ständige Kultusministerkonferenz hat schon bis 2035 prognostiziert, wie viele Schülerinnen und Schüler es Jahr für Jahr an deutschen Schulen geben wird, freilich ohne genau abschätzen zu können, welche kurzfristigen Migrationsbewegungen aus anderen Staaten da vielleicht noch hinzukommen.
Der Trend ist trotzdem klar: In Gesamtdeutschland steigen die Zahlen deutlich bis ins Jahr 2030, erst danach fallen sie leicht, aber auf höherem Niveau als heute. In den ostdeutschen Flächenländern, also den neuen Bundesländern außer Berlin, die wegen der Bevölkerungsstruktur immer auch gesondert von der KMK betrachtet werden, dauert der Anstieg der Schülerzahlen laut Prognose nicht so lange, aber auch hier gibt es ihn.
Unter anderem aus diesen Schülerzahlenprognosen hat die KMK auch berechnet, wie viele Lehrkräfte in den Jahren 2025 beziehungsweise 2035 fehlen werden, wenn nicht entsprechend gegengesteuert wird. Unabhängig davon haben das aber auch das Institut der deutschen Wirtschaft und Wissenschaftler Klaus Klemm getan, die jeweils auf deutlich höhere Zahlen kommen.
Hinzu kommt, dass an den Hochschulen zuletzt sowohl die Zahl der Studienanfängerinnen und -anfänger, als auch die der erfolgreichen Abschlussprüfungen im Lehramt gesunken sind.
Statistische Hoffnung auf kurzfristig etwas mehr Abschlüsse besteht allerdings, wenn die recht großen Erstsemester-Jahrgänge von 2018 bis 2020 ihren Abschluss machen werden, was normalerweise sechs bis acht Jahre nach Studienbeginn passiert, aber nur hilft, wenn die Aussteiger-Quote nicht höher ist als bislang. Überhaupt sei laut dem Dresdner Bildungswissenschaftler Axel Gehrmann bei Prognosen zu selten eingepreist, "dass es in den Universitäten und ihrer grundständigen Lehrer:innenbildung zu eklatanten Abbrüchen, Umstiegen und sogar Totalausfällen kommen kann".
Quer- und Seiteneinsteiger sind für Gehrmann die beste Möglichkeit, recht kurzfristig Abhilfe zu schaffen. Er ist ein großer Befürworter dieses alternativen Weges, der da gerade etabliert wird, wie er sagt. Er findet nur die Bezeichnung für die betreffenden Menschen nicht gelungen.
Quereinsteiger oder Seiteneinsteiger als Lehrer: Sollte man sie anders nennen?
Die – verglichen mit anderen Bundesländern – in Sachsen sehr intensive und anspruchsvolle Ausbildung der Seiteneinsteiger hat zum Ziel, dass die Absolventen am Ende absolut gleichgestellt sind mit grundständig ausgebildeten Lehrkräften auch was Verdienst beziehungsweise Besoldung angeht. Seiteneinsteiger sind "keine Lehrkräfte zweiter Klasse", sagt Axel Gehrmann. Die Worte Seiten- und Quereinsteiger hören sich aber für ihn immer noch so an.
Auch dass in der Kultusministerkonferenz von "Sondermaßnahmen" die Rede ist, wenn es um den Seiteneinstieg geht, kritisiert Gehrmann. Andere Staaten würden viel normaler mit dieser Art des Berufsweges umgehen und zum Beispiel von "Second Career Teachers" sprechen. Das, was wir Seiteneinstieg nennen, sei dort ein normaler Ausbildungsweg.
Gehrmann wünscht sich, dass in Zukunft auch schon an Hochschulen während des Studiums "kontinuierliche Möglichkeiten geschaffen werden, auf Lehramt umzusteigen". Und insgesamt brauche man für die Zukunft "eine konzertierte Aktion aus Bund, Ländern und Universitäten, um ein abgewogenes Verhältnis von grundständiger Lehrkräftebildung in der Universität und alternativer Wege über die Universität in den Lehrer:innenberuf herzustellen".
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