Alternative Behandlung Hohe Mengen Vitamin D könnten bei Autoimmunerkrankungen helfen
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25. September 2023, 05:00 Uhr
Vitamin D ist für uns alle wichtig, für unsere Knochen und das Immunsystem. Für Patienten mit Autoimmunerkrankungen, wie zum Beispiel Multipler Sklerose, gibt es nun auch Therapieversuche mit extrem hohen Dosen Vitamin D. In Berlin wird zurzeit eine Studie durchgeführt, die die Wirkung dieser Therapie beobachtet. Denn: Bislang gibt es keine wissenschaftlichen Ergebnisse dazu. Der Neurologe Prof. Friedemann Paul leitet die Studie und beantwortet einige Fragen zu der neuen Therapieform.
Neue Therapieform "Coimbraprotokoll" könnte gegen Autoimmunerkrankungen helfen
Patienten, die an einer Autoimmunerkrankung – wie zum Beispiel Multipler Sklerose – leiden, brauchen aufwendige Therapien. Ein neuer Therapieansatz ist das sogenannte Coimbraprotokoll. Allerdings gibt es derzeit erst 19 Ärzte in Deutschland, die eine Hochdosistherapie nach diesem Vorbild anbieten. Die Therapie ist benannt nach dem Erfinder, dem brasilianischen Arzt Dr. Cicero G. Coimbra. Dabei werden unter strenger Kontrolle extrem hohe Dosen Vitamin D verabreicht. Teilweise 60.000 Einheiten oder sogar noch mehr pro Tag und über lange Zeit – manchmal auch lebenslang. Zum Vergleich: Die empfohlene Tagesdosis, wie sie beispielsweise in der dunklen Jahreszeit eingenommen wird, liegt bei 1.000 Einheiten. Das Coimbraprotokoll arbeitet also mit der 60- bis 100-fachen Dosierung.
Was ist Vitamin D?
Vitamin D ist für wichtige Prozesse im Körper zuständig. Es trägt unter anderem dazu bei, dass Gene richtig funktionieren und die Knochen ausreichend mit Mineralien versorgt werden. Dazu zählen Phosphat und Kalzium. Zudem benötigt auch das Immunsystem Vitamin D.
Das Robert Koch-Institut definiert Vitamin D so: "Vitamin D ist der übergeordnete Begriff für eine Gruppe fettlöslicher Vitamine, die Calciferole. Zu den wichtigsten Formen gehören Vitamin D2 (Ergocalciferol) und Vitamin D3 (Cholecalciferol)."
Quelle: rki.de
Dahinter steckt die Annahme, dass Patienten mit einer Autoimmunerkrankung Vitamin D nicht ausreichend verwerten können, weil die Vitamin-D-Rezeptoren gestört sind. Das kann genetisch bedingt sein, aber auch durch spontane Mutationen entstehen.
Für die Behandlung nach dem Coimbraprotokoll fehlen bislang Studien, die einen wissenschaftlichen Wirknachweis belegen. Zahlreiche Heilversuche bei Menschen mit Autoimmunkrankheiten, wie zum Beispiel Multiple Sklerose, haben allerdings gezeigt: Es kann funktionieren.
Das sind die Regeln nach dem Coimbraprotokoll:
- Tägliche Einnahme von Vitamin D
- Pro Tag mindestens 2,5 Liter trinken
- Spezielle kalziumreduzierte Diät ohne Milchprodukte
- Nieren- und Kalziumwerte überwachen lassen
- Magnesium und Vitamin B2 zusätzlich einnehmen, wird zur Umwandlung und Aktivierung von Vitamin D benötigt
- Täglich bewegen als Schutz gegen Knochenabbau - Regelmäßig Knochendichte messen lassen
- Serumspiegel: Parathormon (PTH), Kreatinin und Kalzium im Urin überwachen lassen
Experte: "Behandlung nur unter engmaschiger ärztlicher Beobachtung"
Der Neurologe Prof. Friedemann Paul leitet an der Charité in Berlin das Zentrum für experimentelle und klinische Forschung (Experimental and Clinical Research Center, kurz ECRC). Erstmals wurde unter seiner Federführung eine Registerstudie aufgesetzt, die auch Patientinnen und Patienten beobachtet, die mit der Vitamin-D-Hochdosistherapie behandelt werden. Er hofft, dass bald erste Ergebnisse aus der Studie vorliegen. Bisher, soviel konnte er sagen, sind bei den Teilnehmenden keine schwerwiegenden Nebenwirkungen beobachtet worden. Friedemann Paul beantwortet einige Fragen zum Thema.
Frage: Wie hängen Autoimmunkrankheiten und Vitamin D zusammen?
Prof. Friedemann Paul: Vitamin-D-Mangel ist ein Risikofaktor für das Entstehen und das Fortschreiten von Autoimmunerkrankungen. Bei Multipler Sklerose wissen wir das. Wir wissen auch, dass es so etwas wie Vitamin-D-Resistenz gibt. Man vermutet 20 bis 25 Prozent der Menschen mit Autoimmunerkrankungen sind davon betroffen. Das heißt, Vitamin D kommt bei diesen Menschen nicht ausreichend in der Zelle an. Das kann verschiedene Gründe haben, etwa genetische Varianten oder Infektionen, die zur Störung am Vitamin-D-Rezeptor führen.
Die meisten Ihrer Kollegen lehnen die Therapie nach dem Coimbraprotokoll ab, weil sie gefährlich und teuer sei. Verstehen Sie das?
Ich kann das gut verstehen. Es gibt bislang keinen wissenschaftlichen Beleg einer Wirksamkeit dieser Therapie mit dem Coimbraprotokoll, weder bei Multipler Sklerose, noch bei anderen Autoimmunerkrankungen. Doch ich muss an dieser Stelle auch sagen: Jeder Mensch, der an einer chronischen, teilweise behindernden Krankheit leidet, hat das Recht, und mein volles Verständnis, sich auch alternative oder andere Heilwege zu suchen, auch neue Dinge zu probieren.
Denken wir doch nur an die Medizingeschichte, Werner Forßmann hat sich 1929 den ersten Herzkatheter selbst geschoben. Zu der Zeit war das undenkbar. Er hat dafür später den Nobelpreis bekommen. Das war also auch jemand, der den Mut hatte, neue Wege zu beschreiten. Ich denke, ein individueller Heilversuch bei entsprechender Aufklärung des Patienten, der Patientin, das ist absolut gerechtfertigt.
Wie bewerten Sie die Risiken der Hochdosistherapie?
Man sollte diese Behandlung nur unter engmaschiger ärztlicher Beobachtung durchführen. Dazu gehört unter anderem das Monitoring bestimmter Blutwerte, dazu gehört eine Umstellung der Ernährung mit kalziumarmer beziehungsweise -reduzierter Kost, auch eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr. Wenn man das so streng einhält und die Behandlung engmaschig überwacht wird, sind Komplikationen selten. Das ergeben die bisherigen Daten und Fallberichte. Und ich möchte an dieser Stelle dazu sagen: Auch die konventionellen Immuntherapeutika, die wir bei Multipler Sklerose und anderen Autoimmunerkrankungen einsetzen, sind ja teilweise mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden.
Worauf kommt es bei kalziumarmer Kost an?
Wer sich kalziumarm ernähren soll, der muss vor allem auf Milchprodukte verzichten. Aber auch andere Lebensmittel mit einem hohen Kalziumgehalt – wie Brokkoli oder Spinat – sollten vermieden werden.
Warum können sehr hohe Dosen Vitamin D gefährlich sein?
Vitamin D ist für lebenswichtige Stoffwechselprozesse, wie den Kalzium- und Phosphat-Haushalt notwendig. Wenn der Darm es nicht gut aufnimmt, fehlt es zum Beispiel in den Muskeln und für das Immunsystem, wo bestimmte Gene ohne Vitamin D nicht aktiviert werden können. Doch zu viel Vitamin D ist für den Körper auch gefährlich, denn es sorgt dafür, dass zu viel Kalzium über den Darm aufgenommen wird. Wenn also sehr viel Vitamin D genommen wird, kann sich die Kalziumaufnahme schnell verdoppeln. Der Körper baut es entweder in die Knochen ein oder muss es über die Nieren ausscheiden. Das kann zu Nieren- oder Gefäßverkalkungen führen und ist potenziell lebensbedrohlich. Deswegen gehört zum Coimbraprotokoll unter anderem eine kalziumarme Ernährung und viel Wasser, um die Nieren zu schonen. Und vor allem müssen Nieren- und Kalziumwerte alle drei Monate engmaschig überprüft werden.
Welche Heilungschancen sehen Sie zukünftig für Patientinnen und Patienten mit Autoimmunkrankheiten durch die Therapie nach Coimbraprotokoll?
Also für das Versprechen auf Heilung ist es zu früh. Einfach weil es bisher keine wissenschaftlichen Belege aus gut gemachten Studien gibt, dass diese Therapie wirkt. Wir haben aus vielen Fallberichten – gerade auch von Patientinnen und Patienten mit Multipler Sklerose, die wir an der Charité sehen – sehr hohe Hinweise darauf, dass sich Krankheitsverläufe stabilisieren können oder das Fortschreiten der Krankheit aufgehalten werden kann. Aber nach ganz strengen wissenschaftlichen Kriterien haben wir bisher keinen Beleg der Wirksamkeit. Das muss man auch ganz klar sagen.
Warum gibt es bisher keine Studien dazu?
Das hat verschiedene Gründe. Sie müssten für eine moderne, sogenannte randomisierte Studie, mehrere hundert Menschen über zwei oder mehr Jahre beobachten. Sie müssten regelmäßig aufwendige Untersuchungen, wie Kernspintomographie und Labordiagnostik machen. Da reden wir über eine Größenordnung von zwei bis fünf Millionen Euro. Man muss ganz klar sagen: Es gibt bei der pharmazeutischen Industrie kein Interesse daran, solche Studien zu fördern und auch aus öffentlichen Mitteln der Forschungsförderung ist so ein großes Volumen einfach nicht zu stemmen.
MDR (jvo)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Hauptsache gesund | 14. September 2023 | 21:00 Uhr