Ein kleiner Junge ist beim Arzt und wird geimpft
An der TU Dresden sehen die Kinderärzte wieder Krankheiten, die durch Impfungen "fast vergessen" waren... Bildrechte: imago images / Westend61

Der Redakteur | 04.03.2024 Sind die Masern ausgerottet?

04. März 2024, 13:00 Uhr

Impfen gehört zu den größten Errungenschaften in der Medizin. Viele Krankheiten, die vor nicht wenigen Generationen noch ein großer Faktor bei der Kindersterblichkeit waren, sind heute fast verschwunden. Das führt zu gefährlicher Vergesslichkeit.

Thomas Becker
Bildrechte: MDR/Christoph Falkenhahn

Präventionsparadoxon sagen Mediziner zu dem Phänomen, dass die Krankheit verschwunden ist und man deshalb glaubt, die Impfung sei überflüssig. Denn es war schlicht die Impfung, die der Krankheit die Gefährlichkeit genommen hat.

Mit der Maserimpfpflicht nahm in Deutschland die Impfdiskussion Fahrt auf, die in der Corona-Pandemie ihre Sachlichkeit mitunter völlig verloren hat. Alles wurde durcheinandergeworfen, Nebenwirkungen, Impfzwang, Verschwörungsmythen und am Ende stand eine Verunsicherung, die bis heute anhält.

Impfspritze liegt auf Impausweis
Das Thema Impfen wird seit der Corona-Zeit besonders heftig diskutiert. Bildrechte: Colourbox.de

Um es vorwegzunehmen: Es besteht kein Grund, wegen der Masern in Panik zu verfallen. Auch Prof. Dr. med. Reinhard Berner, neues Mitglied der Ständigen Impfkommission (STIKO), hat nicht die Befürchtung, dass uns eine Masernepidemie droht. Dafür ist die Durchimpfung noch relativ hoch in Deutschland. Aber besorgt ist er als Mediziner und Chef der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin an der TU Dresden, dass er wieder schwere Fälle dieser eigentlich längst vergessenen Krankheiten auf der Station haben wird:

  • Keuchhusten
  • Diphterie
  • Masern

Skepsis der Impfung gegenüber und Nachfragen sind völlig okay, sagt Prof. Berner, aber die Infektion des eigenen Kindes auf einer Masernparty der Impfung vorzuziehen, sei unverantwortlich.

Für eine Masernparty habe ich wenig Verständnis.

Prof. Dr. med. Reinhard Berner, Kinder- und Jugendmediziner und Mitglied STIKO

Die Hilflosigkeit der Medizin bei Masernkomplikationen

Die Impfung gegen Masern ist nicht etwa vorgeschrieben, weil das Virus Hautauschlag auslöst. Dieser Teil der Masernerkrankung ist relativ harmlos und verschwindet wieder. Die schon etwas schlimmere Komplikation ist die Eigenschaft des Virus, das Immunsystem ein Jahr und länger zu schwächen, sodass andere Erreger leichtes Spiel haben. Richtig gefährlich sind die Masern, weil das Virus eben auch Gehirnentzündungen auslösen kann, die nicht immer folgenlos abheilen.

Wenn die Infektion beginnt, verläuft sie schicksalhaft im einzelnen Patienten, Sie können nichts tun.

Prof. Dr. med. Reinhard Berner, Kinder- und Jugendmediziner und Mitglied STIKO
Baby schaut auf Impfspritze 25 min
Bildrechte: Colourbox.de
25 min

Kinderarzt Prof. Dr. med. Reinhard Berner zum Impfen von Kindern gegen Masern.

MDR THÜRINGEN - Das Radio Mo 04.03.2024 16:40Uhr 24:31 min

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Noch schlimmer ist SSPE, eine Erkrankung, die erst einige Jahre nach der eigentlichen Maserninfektion auftritt, aber bereits im Säuglingsalter unbemerkt ihren Anfang nimmt, wenn es der Körper nicht geschafft hat, das Virus aus dem Körper zu drängen.

Das Problem ist, dass die Impfung erst nach Vollendung des ersten Lebensjahres empfohlen wird. Ein gewisser Restschutz durch die Mutter, gerade bei Kindern, die gestillt werden, ist zwar da, aber das setzt voraus, dass Sie Mutter geimpft ist oder - das ist immer die schlechtere Variante - die Masern durchgemacht hat. SSPE zersetzt das Gehirn und läuft unheilbar auf einen schmerzhaften Tod hinaus.

Die Kinder haben unendlich viele Schmerzen, sie können als Arzt und Eltern nur zuschauen, wie das Kind stirbt und hoffen, dass es möglichst schnell geht.

Prof. Dr. med. Reinhard Berner, Kinder- und Jugendmediziner und Mitglied STIKO

Einer von 10.000 Menschen, die an Masern erkrankt sind, stirbt an SSPE, sagt Prof. Berner. Dass bedeutet, dass eine ungeschützte Bevölkerung sehr viel Leid ertragen müsste. Das zeigt auch der Blick in die Geschichte.  

Ist das nicht Panikmache wegen sehr seltener Fälle?

Die Fälle sind nur dann selten, wenn die Menschen gegen Masern immun sind. Hinzu kommt, dass Masern eine der ansteckendsten Krankheiten überhaupt sind, schreibt das RKI. Das kurze Einatmen infektiöser Tröpfchen, die sich stundenlang in Räumen halten können, reicht für eine Infektion aus.  

Das Masernvirus führt bereits bei kurzer Exposition zu einer Infektion und löst bei fast allen ungeschützten Infizierten eine klinische Symptomatik aus.

Masern-Ratgeber des RKI

Masern treten in Wellen auf. Wenn das Virus früher auf seinem Verbreitungsweg um die Erde auf eine ungeschützte Bevölkerung traf, hatte das verheerende Folgen. Medizinhistoriker wie Dr. Jana Claudia Jeuck, die sich in ihrer Dissertation am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität zu Köln auch mit diesen Epidemien beschäftigt hat, führt mehrere große Ausbrüche dieser Art an.

Auf den Fidschiinseln starb nach einem Masernausbruch 1875 Schätzungen zufolge ein Viertel der Gesamtbevölkerung. 1900 kam es in Alaska zu einer Masernepidemie, bei der 40 Prozent der Ureinwohner starben.

Wie verbreitet sind die Masern noch?

Die Masern waren seit der Impfungen ab den 1960er-Jahren in Deutschland und Europa kein großes Thema mehr. Zuletzt konnten die Wissenschaftler diese rückläufige Entwicklung auch in Afrika beobachten. Die geschätzte Todesrate sank nach der Einführung der Impfung dort von 355.000 im Jahre 2000 bis auf 41.400 Fälle im Jahre 2012, so Dr. Jana Claudia Jeuck in ihrer Arbeit.

Das ist nur ein Teilerfolg, weil die Durchimpfung der Bevölkerung immer noch zu gering ist, gerade was die zweite Impfdosis betrifft. Die Todesrate war in Afrika aber auch deshalb noch so hoch, weil gerade Kinder oft unterernährt sind und schon Masernsymptome wie Durchfall tödlich sein können.

In Industrieländern gehen Gesundheitsexperten aktuell von rund zwei Todesfällen bei 1.000 Erkrankten aus. Da sind die Menschen mit dauerhaften Hirnschäden und anderen lebenslangen Folgen noch gar nicht dabei.

Ortsschild Masern und Impfpflicht
Seit den 1960er-Jahren wird in Deutschland gegen Masern geimpft. Bildrechte: IMAGO / Christian Ohde

Zur Erinnerung: Bei der Corona-Impfung bekamen viele bereits Schnappatmung, wenn bei einem von 100.000 Geimpften eine in der Regel sogar behandelbare oder vorübergehende Nebenwirkung auftrat, Stichwort Herzmuskelentzündung oder Thrombose. Und Masern sind deutlich ansteckender als Corona und träfen fast jeden, der nicht geschützt ist mit den daraus folgenden statistischen Wahrscheinlichkeiten ernster Folgen. Und Impfungen schützen und nicht nur vor den Masern, sondern auch vor anderen Krankheiten, die wir längst vergessen haben.

Welche Krankheiten nehmen wieder zu?

Alle Impfbestandteile einer Sechsfachimpfung haben ihre Berechtigung, sagt Prof. Dr. med. Reinhard Berner. Die dadurch verhinderten Krankheiten brächten sonst wie früher die Gefahr lebenslanger Komplikationen oder gar den Tod. Explizit nennt er Diphterie aus der eigenen Erfahrung als Kinder- und Jugendmediziner oder Tetanus.

Ich habe drei Kinder erlebt, die an Diphterie gestorben sind in meiner medizinischen Laufbahn und ich möchte das nicht mehr erleben.

Prof. Dr. med. Reinhard Berner, Kinder- und Jugendmediziner und Mitglied STIKO

Und auch Krankheiten, die überlebt werden und vielleicht sogar folgenlos ausheilen sind mehr als nur eine Erkältung, wie es zum Beispiel der Begriff Keuchhusten vermuten lassen könnte. Selbst RSV, ein weltweit verbreiteter Erreger von akuten Atemwegserkrankungen, der uns im Winter begleitet hat, sei ein Kinderspiel gegen das, was bei Keuchhusten passiert, sagt Professor Berner.

Die Kinder hätten über viele Wochen derart heftige Hustenanfälle, dass sie blau anlaufen und erbrechen müssen, das sei eine schlimme Krankheit.

Wir haben heute Nacht ein vier Monate altes Kind aufgenommen, das wir überwachen, weil das Risiko besteht, dass das Kind wegen seiner Keuchhusteninfektion durch Atemstillstand verstirbt.

Prof. Dr. med. Reinhard Berner, Kinder- und Jugendmediziner und Mitglied STIKO

Und all diese Krankheiten wären kein Thema mehr, wenn die existierenden und in aller Regel gut verträglichen Impfungen flächendeckend wahrgenommen werden würden. Zum eigenen Schutz und besonders zum Schutz unserer Kinder. 

MDR (ifl)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Ramm am Nachmittag | 04. März 2024 | 16:40 Uhr

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