Stimmung in Russland Russischer Wirtschaftsexperte zu Sanktionen: Bevölkerung leidet mehr als die Oligarchen

23. Februar 2023, 18:00 Uhr

Oleg Buklemishev lebt in Moskau. Der Wirtschaftsexperte arbeitete bis 1998 im russischen Finanzministerium und bis 2004 für die Regierung. Im Interview mit der MDR-Wirtschaftsredaktion kritisiert er die Sanktionen und die russische Finanzpolitik gleichermaßen. Er gibt ein Stimmungsbild aus Moskau, ein Jahr nach Kriegsbeginn.

MDR-Volontär Philipp Baumgärtner
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Der Krieg in der Ukraine läuft seit einem Jahr. Und mit ihm die Sanktionen des Westens gegen Russland. Doch die Wirtschaft scheint nicht im vorhergesagten Umfang unter ihnen zu leiden. Was jedoch leidet, ist die Stimmung und Zuversicht der russischen Bevölkerung, sagt der Moskauer Wirtschaftsexperte Oleg Buklemishev. Die MDR-Wirtschaftsredaktion sprach mit ihm zum wiederholten Male über seine Eindrücke zur Lage.

Herr Buklemishev, wenn Sie das Moskau von heute mit dem Moskau von vor einem Jahr vergleichen – hat sich etwas geändert?

Oleg Buklemishev: Optisch hat sich nicht viel verändert. Das Leben läuft weiter. Einige Marken sind nicht mehr erhältlich. Coca-Cola zum Beispiel wurde durch andere Marken ersetzt. An einigen Orten mussten Geschäfte schließen. Ich schätze zwischen einem Drittel und der Hälfte, je nachdem, wo man schaut. Veränderung gibt es aber tatsächlich in den Köpfen der Menschen. Sie wissen, dass sie nicht mehr in den Süden des Landes fliegen können, zum Beispiel nach Sotschi, wo viele gern Urlaub machen. Man soll mit dem Zug fahren. Das Gleiche gilt für Krasnojarsk in Sibirien.

Bei Autohändlern kann man als Neuwagen aktuell nur russische und chinesische Autos kaufen. Und es gibt nur noch wenige unverkaufte Fahrzeuge, aber die sind ziemlich teuer und die Schlangen dafür sind lang. Die meisten westlichen Autos sind japanische und koreanische Autos, die werden vereinzelt verkauft, aber sind natürlich viel teurer. Die Kinos haben sich geleert, es werden nur noch russische Filme gezeigt.

Also wenn man es zusammenfasst: Für vieles findet sich Ersatz, das Leben ist etwas teurer geworden, aber man kann fast alles kaufen, wenn man etwas mehr Zeit und Geld aufbringt. Nichts allzu Kritisches, bis auf ein paar Punkte, die das Leben des normalen Bürgers wohl nicht so sehr einschränken.

Wir bewegen uns von marktorientiertem Angebot und marktorientierter Nachfrage zu einer staatlich finanzierten Nachfrage nach militärischer Ausrüstung.

Oleg Buklemishev

Die wirtschaftlichen Prognosen für das letzte Jahr waren ziemlich schlecht. Ein wirtschaftlicher Einbruch von zehn Prozent wurde vorhergesagt, laut jüngsten Zahlen beträgt der Rückgang nur etwa zwei Prozent. Für dieses Jahr wird sogar ein Wachstum vorhergesagt. Kann man diesen Zahlen trauen und warum weichen sie so erheblich von den Prognosen ab?

Oleg Buklemishev: Es gibt mehrere Erklärungen. Meine Kollegen haben dazu natürlich auch geforscht und ich denke, einer der wichtigsten Gründe ist, dass sich die russische Wirtschaft als viel marktorientierter und flexibler erwiesen hat, als man zuerst dachte. Wie ich sagte: Viele Produkte wurden ersetzt im alltäglichen Leben und das zeigt mir, dass die Marktwirtschaft schon noch funktioniert und gewinnorientierte Unternehmen überleben können.

Ein weiterer Faktor, der etwas beunruhigender ist, ist, dass wir eine strukturelle Verschiebung in der russischen Wirtschaft sehen. Und das bilden die positiven Zahlen nicht ab. Wir bewegen uns von marktorientiertem Angebot und marktorientierter Nachfrage zu einer staatlich finanzierten Nachfrage nach militärischer Ausrüstung. Wenn Sie sich die Industrie anschauen, sehen Sie, dass es nur wenige Erzeugnisse gibt, deren Produktion sich in diesem Zeitraum ausgeweitet hat: und zwar Metallgegenstände und Klamotten, zu großen Teilen für militärische Zwecke.

Es ist wie zu Sowjetzeiten eine Wirtschaft, die größtenteils nicht für die Verbrauchernachfrage arbeitet, sondern für andere Dinge. Und ich möchte daran erinnern, dass genau dies der Faktor war, der die Sowjetunion zum Zusammenbruch brachte.

Die Regierung versucht so zu tun, als ob alles funktioniert. Tut es das? Nun ja, es hat sich alles nicht so sehr verschlechtert und es gibt für alles Lösungen. Aber man stelle sich vor, was wäre, wenn diese kreative Energie für das Gute eingesetzt worden wäre, nicht für diesen "Ausnahmefall", wie wir ihn jetzt haben.

Nun fragen sich viele Menschen, ob die westliche Sanktionspolitik dem Westen mehr geschadet hat als Russland. Was würden Sie sagen?

Oleg Buklemishev: Ich würde sagen, es gibt nicht die eine westliche Sanktionspolitik. Es gibt verschiedene Maßnahmen, die von verschiedenen Regierungen und von privaten Akteuren auferlegt wurden. Sie widersprechen sich sehr oft und viele Wirtschaftswissenschaftler bestätigen das.

Wenn man die Krise der Zahlungsbilanz und die Verschlechterung des Wechselkurses will, sollte man die Zahlungen der Russen nicht abschneiden, das wurde aber getan. Im Allgemeinen schaden die Sanktionen natürlich der Stimmung, sie schaden den Menschen. Die Sanktionen verschieben Grenzen des Machbaren und die Sanktionen schaden der zukünftigen Entwicklung des Landes, da gibt es keine Zweifel. 

Fehlende Dinge werden ersetzt, trotzdem leidet die Wirtschaft. Die Haushaltszahlen im Januar zeigen, dass der russischen Wirtschaft das zusätzliche Geld ausgeht und das Defizit wird wahrscheinlich in diesem Jahr chronisch werden und noch viel größer werden. Für mich besonders besorgniserregend ist das Thema "Humankapital". Die Menschen sehen anderswo ein besseres Leben und das Land verliert seine besten Leute. Übrigens nicht nur durch die Auswanderung, sondern auch durch den Krieg.

Sie haben das große Haushaltsdefizit angesprochen, das Ihr Finanzminister im Januar verkündet hat. Die Rede ist von umgerechnet 23 Milliarden Euro. Ist Russland von einer Armutswelle bedroht?

Oleg Buklemishev: Noch nicht. Natürlich waren die Januar-Zahlen ein Schock. Der Betrag entspricht schon jetzt der Hälfte des Defizits, das wir für das ganze Jahr errechnet haben. Das sind also gefährliche Zahlen, obwohl die Regierung weiterhin darauf beharrt, dass es sich um saisonale Effekte handelt. Sie wollen jetzt Steuern erhöhen und die Duma billigte bereits ein Gesetz, das die Besteuerung von Öl- und Gasunternehmen erhöht.

Ein weiterer, etwas seltsamer Schachzug der Regierung ist: Großunternehmen sollen freiwillige Zahlungen für den Haushalt tätigen. Damit will die Regierung 300 Milliarden Rubel generieren und weitere Steuererhöhungen vermeiden. Aber früher oder später werden sie, wenn die Ausgaben so hoch sind, andere Methoden anwenden müssen, wie zum Beispiel einen schwächeren Rubel, oder die Erhöhung der Steuern.

Ist Russland aus Ihrer Sicht bemüht, den Handel mit anderen und neuen Partnern auszuweiten?

Oleg Buklemishev: Ja, das funktioniert vor allem in der Privatwirtschaft. Da wird viel umgemodelt und es entstehen neue Partnerschaften. Aber wir können die Geschichte nicht "täuschen" und auch nicht die Geographie und die Wirtschaft. Europa ist wichtig für Russland und wenn wir die "aktuellen Hindernisse" beseitigen können, wird Europa irgendwann wieder der führende Handelspartner Russlands sein. Dann werden die Pipelines wieder laufen und das Vertrauen zurückkehren.

Wo Sie gerade von Pipelines sprechen. Welche Industrien sind aktuell besonders von den Sanktionen betroffen?

Oleg Buklemishev: Für die IT-Branche ist es ein schwerer Schlag. Da wandern die Leute ins Ausland ab. Ihre Fähigkeiten, ihre Kompetenzen sind überall gefragt. Da werden jetzt händeringend Leute gesucht, teilweise werden sogar die Löhne erhöht.

Aber es betrifft nicht nur die komplexen Produktionsstätten. Die Ölindustrie muss bereits die Produktion kürzen, und das wird Einschnitte bedeuten, auch wenn man bereits neue Märkte erschließt.

Die Autoproduktion ist um die Hälfte eingebrochen und auch die Produktion von Flugzeugen ist komplizierter, weil verschiedene Bauteile fehlen. Alles läuft in einem langsameren Tempo und in einer geringeren Qualität als bisher.

Die Arbeitslosigkeit bleibt, laut offiziellen Zahlen, nach wie vor niedrig?

Oleg Buklemishev: Die Arbeitslosigkeit ist nicht der Faktor, den ich hier in Betracht ziehen würde. Russland ist traditionell ein Land des Arbeitskräftemangels. Die Unternehmen entlassen in der Regel während der Krise nie Leute. Sie kümmern sich nur um deren Löhne. Sie werden kleiner, kleiner und kleiner. Das nennt man die "umgekehrte Flexibilität" oder "Superflexibilität" der Löhne. Arbeitslosigkeit ist also kein wirklicher Faktor.

Aber wenn die Löhne sinken, bedeutet das doch auch steigende Unzufriedenheit?

Oleg Buklemishev: Ja, absolut. Die Unzufriedenheit wird zunehmen. Aber noch einmal: Im letzten Jahr haben wir keinen so großen Rückgang der Realeinkommen erlebt. Er lag nur bei einem Prozent. Aber man weiß auch nicht ganz genau, wie diese Zahlen entstehen.

Wir sehen anekdotische Beweise dafür, dass in den ärmsten Regionen, wo viele Menschen in den Krieg gezogen sind oder mobilisiert wurden, die Einkommen deutlich gestiegen sind. Die Armut ist dort also geringer, aber das geschieht natürlich auf Kosten anderer. Wir brauchen mehr und langfristigere Daten, um zu sehen, wer darunter leidet und welche Schichten der Gesellschaft das betrifft. Um zur Frage zurückzukommen: Ja, diese Unzufriedenheit wird mehr werden.

Wenn wir über diese Entwicklung und den Krieg im Allgemeinen sprechen: Wie wird er in Russland im Alltag diskutiert und wie darf man ihn überhaupt diskutieren? Ist es Ihnen zum Beispiel an der Universität erlaubt?

Oleg Buklemishev: Es ist nicht meine Aufgabe, dies hier an der Universität zu diskutieren, und ich bin durch das Gesetz der Universität nicht berechtigt, politische Angelegenheiten zu diskutieren. Ich vermeide also solche Diskussionen, und ich halte es für richtig, dass es so eine Regelung gibt.

In der Öffentlichkeit kann ich bestimmte Wörter nicht sagen, sei es in sozialen Netzwerken oder in den Medien. Das ist verboten und es wurden schon Strafanzeigen gegen die Leute gestellt, die sich in bestimmter Art und Weise äußern oder diese Wörter im öffentlichen Diskurs verwenden.

Es ist also nicht das Thema, das in den Medien breit diskutiert wird, und wenn es diskutiert wird, wird meist einseitig die offizielle Sichtweise dargestellt, Gegendarstellungen und andere Meinungen werden nicht abgebildet.

Aber für Sie ist es nach wie vor problemlos möglich, mit ausländischen Medien zu sprechen?

Oleg Buklemishev: Ich habe auch mit den russischen Medien gesprochen, aber russische Medien stellen keine wirklichen Fragen und wie soll das auch funktionieren? Ihnen kann leicht die Lizenz entzogen werden, wenn sie etwas senden, das nicht auf der allgemeinen Linie der Regierung liegt.

Dass Sie mit uns sprechen, ist aber kein Problem?

Oleg Buklemishev: Ich weiß nicht, vielleicht wird das irgendwann verboten. Aber bisher spreche ich mit allen Medien, die anfragen, außer mit dem Militär, und beantworte alle Fragen professionell. Ich kann keine politischen Ansichten äußern, ich bin kein Politiker, und versuche auch, nicht mit dem Strafrecht in Konflikt zu geraten, aber beruflich kann ich mich äußern, und das tue ich, ja.

Es gibt nicht wenige, die sagen, dass die russische Mittelschicht durch ihre Unbekümmertheit dazu beiträgt, den Krieg aufrechtzuerhalten. Wie sehen Sie das? Trägt die Mittelschicht den Krieg mit?

Oleg Buklemishev: Nun, es kann nicht jeder ins Ausland reisen und dort leben, monatelang, jahrelang. Ich kann es mir zum Beispiel nicht leisten, für längere Zeit ins Ausland zu gehen und dort zu leben. Also geht das Leben weiter. Die Leute arbeiten weiter und ernähren sich und ihre Familie. Das ist Routine.

Was sich vielleicht verändert hat: Die Russen können sich jetzt kein neues Auto mehr kaufen, sie können nicht mehr ins Ausland in den Urlaub fahren wie früher. Es gibt also einige Ersparnisse, und das bringt uns auch zum Strukturwandel in der russischen Wirtschaft. Die Menschen geben weniger aus, aber sie sind trotzdem nicht in ernsthaften Schwierigkeiten. Und so läuft alles weiter wie bisher.

Sie rechnen also auch nicht mit einer größeren Opposition oder verstärkten Protesten?

Oleg Buklemishev: Nein, das ist nicht zu erwarten. Der Krieg läuft seit einem Jahr und ich sehe nicht, dass es in Zukunft viele Proteste geben wird. Die Menschen tolerieren das irgendwie. Einige leiden auch darunter, aber das wird nicht gesehen. So etwas wird schnell unterdrückt und so ist es auch mit den Protesten.

Wie denken Sie persönlich über die letzten zwölf Monate? Und hat sich Ihr Leben, auch das an der Universität, verändert?

Oleg Buklemishev: Tja, das Leben scheint wie immer zu sein, obwohl die allgemeine Stimmung eher deprimiert ist. Die Menschen haben das Gefühl, ob sie nun darüber reden oder nicht, dass es mit dem Land bergab geht, nicht bergauf. Die Lebens- und Berufsaussichten der Studenten sind viel schlechter. Einige Arbeitsplätze sind verschwunden, einige Berufe sind für sie nicht mehr verfügbar. Und sie sehen die Welt zwangsläufig in einem "dunkleren Kontext" als früher.

Die Studenten können außerdem nicht ins Ausland gehen, sie werden von vielen Universitäten nicht akzeptiert, weil sie Russen sind. Das ist meiner Meinung nach völlig falsch. Die zukünftigen Generationen müssen miteinander sprechen. Aber es gibt eine Feindseligkeit und die wird durch die in meinen Augen nicht sehr vernünftigen Sanktionen erzeugt.

Wir, die in der Sowjetunion geboren wurden, haben dunklere Zeiten gesehen und haben hellere Zeiten gesehen. Für uns sind es traurige Entwicklungen. Und die Tatsache, dass wir durch die Sanktionen teilweise mehr unter Druck gesetzt sind als die Oligarchen, ist deprimierend. Da muss man sich nur mal die eingeschränkten Zahlungsmöglichkeiten, auch im Ausland, anschauen.

Die Tatsache, dass wir durch die Sanktionen teilweise mehr unter Druck gesetzt sind als die Oligarchen, ist deprimierend.

Oleg Buklemishev

Lassen Sie uns einen Blick auf die nächsten zwölf Monate werfen. Werden Sie, um in Ihren Worten zu bleiben, heller oder dunkler?

Oleg Buklemishev: Ich hoffe es wird besser, man sollte immer hoffen, und ich hoffe, dass sich etwas ändern wird. Aber das vergangene Jahr hat gezeigt, dass das eher nicht zu erwarten ist. Ich sehe allerdings in der aktuellen Situation auch keinen Gewinner. Wir Ökonomen suchen immer nach einem Gleichgewichtszustand. Das aktuelle "Gleichgewicht" ist nicht sehr stabil und nachhaltig.

Früher oder später, das hat die Geschichte gezeigt, wird dieses aktuelle Gleichgewicht durchbrochen werden und durch ein stabileres und besseres ersetzt werden. Das ist meine Hoffnung, und ohne diese Hoffnung kannst du nicht leben.

Das Interview wurde aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

MDR (phb)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 23. Februar 2023 | 12:00 Uhr

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