75 Jahre Nato Ist die Nato ein zahnloser Tiger?
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04. April 2024, 15:13 Uhr
In diesem Jahr wird das größte Verteidigungsbündnis der Welt 75 Jahre alt. Und nach Jahrzehnten des relativen Friedens in Europa hat sich mit Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine die Sicherheitslage dramatisch geändert. Seither müssen sich die inzwischen 32 Mitgliedsstaaten die Frage stellen, ob sie sich im Ernstfall wirksam verteidigen könnten.
"Nach Artikel drei müssen sich alle Nationen selbst verteidigen können. Das wurde jahrelang vernachlässigt", sagt Admiral Rob Bauer, Leiter des Militärausschusses und damit einer der ranghöchsten Mitarbeiter der Nato. Einer der Gründe für diese Nachlässigkeit ist die neue Friedensordnung, die sich mit dem Ende des Kalten Krieges entwickelte. Die Nato, die einst als Verteidigungsbündnis gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten gegründet wurde, hatte neue Aufgaben: etwa den Krieg gegen den Terror, der nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 begann. Die kollektive Verteidigung geriet immer weiter in den Hintergrund.
Die Politikwissenschaftlerin Liana Fix, die am Council on Foreign Relations zu Außen- und Sicherheitspolitik forscht, erklärt, welche Konsequenzen das hat: "Zum Beispiel haben die Briten in der Vergangenheit ihre Landstreitkräfte ganz stark reduziert. Deutschland hat zwar Landstreitkräfte, die aber nicht unbedingt kompatibel sind mit anderen Streitkräften. Frankreich hat zwar Nuklearwaffen, aber es sind viel zu wenige im Vergleich zu Russlands Nuklearwaffen."
Deutschland hat zwar Landstreitkräfte, die aber nicht unbedingt kompatibel sind mit anderen Streitkräften.
Kampf gegen Bürokratie
Ein anderes Problem der Nato ist die Bürokratie, die damit einhergeht, wenn 32 Staaten militärisch kooperieren wollen. Um den Bürokratiedschungel bei Truppenverlegungen durch Europa in den Griff zu bekommen, betreibt sie seit 2021 in Ulm das Joint Support and Enabling Command, kurz JSEC, geleitet von General Alexander Sollfrank. Der Kommandeur beschreibt das Problem: "Wir haben eine föderale Struktur. Das heißt, man muss Bundesländer mit unterschiedlichen Regierungen ins Boot bringen. Da sind Formulare auszufüllen, die aktuell noch – auch hieran arbeiten wir – von Nation zu Nation unterschiedlich sind. Und zwar sehr, sehr dezidiert. Außerdem sind beispielsweise Zollbestimmungen zu berücksichtigen. Dann gibt es die Tierseuchenprophylaxe."
Ziel des JSECs ist es, eine Art "militärisches Schengen" zu erschaffen. So soll es in Zukunft möglich sein, 100.000 Soldatinnen und Soldaten in zehn Tagen zu verlegen. Aktuell braucht es für weniger als die Hälfte 15 Tage. Und das JSEC ist im Ernstfall für den Nachschub an die Front zuständig, egal, ob es dabei um Lebensmittel, Treibstoff, Waffen oder Munition geht. Deshalb werden in Ulm Planspiele mit den verschiedensten Konflikt-Szenarien durchgespielt. Dabei kommt es vor allem darauf an, dass alles, was hier geplant wird, jederzeit machbar sein muss. Denn: "Abschreckung wirkt nur, wenn unsere Pläne und unsere Vorbereitungen glaubwürdig sind. Das heißt, dass das alles auch erfolgreich ist im Verteidigungsfall", so Sollfrank. "Und nur so geht eine klare Botschaft von uns aus, die da lautet: Wagt es nicht."
Das Problem mit der Einstimmigkeit
Ein anderes mögliches Problem ist die Struktur der Nato selbst. Denn im Fall eines Angriffes auf ein Nato-Mitgliedsland müssen alle 32 Mitgliedsstaaten zustimmen, um den Verteidigungsfall nach Artikel fünf auszurufen. Das ist kein Automatismus, sondern ein Beschluss, denn in vielen Mitgliedsstaaten ist es das Privileg des Parlamentes, einen Krieg zu erklären. Wenn nur ein Land seine Zustimmung verweigert, kann Artikel fünf nicht in Kraft treten. In diesem Fall "können die anderen Nationen immer noch multilateral handeln", sagt Ben Hodges, der von 2014 bis 2017 kommandierender General der US-Truppen in Europa war. "Allerdings würde es nicht im Rahmen eines Nato-Konstrukts geschehen. Das wäre ein Problem."
Abschreckung wirkt nur, wenn unsere Pläne und unsere Vorbereitungen glaubwürdig sind.
Wenig innerer Zusammenhalt
Die Nato ist also auf Zusammenhalt im Inneren angewiesen. Doch wie ist es darum tatsächlich bestellt? In Deutschland betrug die Zustimmung zur Nato kurz vor dem Ukraine-Krieg nur 54 Prozent – und in Frankreich sogar nur 39 Prozent. Noch dramatischer sind die Umfrageergebnisse in Bezug auf die Beistandsverpflichtung nach Artikel fünf: Lediglich 14 Prozent der Deutschen gaben vor dem Ukraine-Krieg an, dem Nato-Mitglied Türkei im Falle eines russischen Angriffs beistehen zu wollen.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Zustimmungswerte zur Nato immer schon schwankend waren – besonders in Deutschland. Die bewaffneten Konflikte der Welt haben in den Augen der Deutschen nichts mit Deutschland zu tun. "In Deutschland gab es ganz lange so eine Scheuklappenhaltung zu allem, was Konflikt betrifft", sagt die Forschungsdirektorin der Nato-Militärakademie in Rom, Florence Gaub. "Es geht nicht nur darum, wie viel Geld man ausgibt oder wie viele Soldaten man hat, sondern auch: Kann man sich überhaupt vorstellen, dass es zum schlimmsten Fall kommt? Weil wenn man das noch nicht mal tut, dann ist man wirklich nackt, wenn es dazu kommt."
In Deutschland gab es ganz lange so eine Scheuklappenhaltung zu allem, was Konflikt betrifft.
Wackelkandidat USA
Sicher ist: Das mit Abstand militärisch potenteste Mitglied der Nato sind die USA. Mit einer Truppenstärke von 1.348.000 Soldatinnen und Soldaten haben sie die größte Armee, gefolgt von der Türkei mit 439.000 und Frankreich mit 208.000 Menschen unter Waffen. Die USA investieren auch das meiste Geld in die Verteidigung. Wenn die Nato respektiert wird, dann nur, weil Machthaber weltweit wissen, dass hinter dem Bündnis auch die Schlagkraft der US-Streitkräfte steht. Doch das muss nicht so bleiben. Im Februar sorgte Präsidentschaftskandidat und Ex-Präsident Donald Trump mit einer Aussage zur Nato für Entsetzen. Sollten Länder nicht die vereinbarten Gelder in ihre Verteidigung investieren, werde er sie in einem Angriffsfall nicht schützen: "Ich würde Russland sogar ermutigen, zu tun, was immer sie wollen."
Schon während seiner Amtszeit spielte Donald Trump mit dem Gedanken, aus der Nato auszutreten, erinnert sich der amerikanische Diplomat John Bolton. Zu Beginn von Trumps Amtszeit war er nationaler Sicherheitsberater, bis er von Trump entlassen wurde. Bolton befürchtet, "dass Donald Trump sich aus der Nato zurückziehen wird, sollte er wieder Präsident werden. Wahrscheinlich wird er auch die Ukraine im Stich lassen und wer weiß, was er noch alles tun wird. Ich denke, es wird sehr destruktiv, sehr kontraproduktiv sein."
Neue Weltordnung, neue Aufgaben
Doch ein möglicher Austritt der USA ist nicht das einzige Problem der Nato. Die weltweiten Kräfteverhältnisse verschieben sich seit Jahren. So tritt etwa China im pazifischen Raum immer aggressiver auf, hat inzwischen die größte Flotte der Welt. Und auch die militärischen Ressourcen der USA sind begrenzt. Deshalb müssen die Amerikaner irgendwann Prioritäten setzen. Was das bedeuten kann, erzählt Nato-Forscherin Florence Gaub: "Ich war 2019 in den USA und es ging in unserer Delegationsreise in Gesprächen auch zum Teil um Russland. Und die Amerikaner haben uns gesagt: Russland ist euer Problem. Das ist ein europäisches Problem. Das ist nicht mehr unseres. Ihr müsst euch darum kümmern."
Die Europäer müssten sich an den Gedanken gewöhnen, dass die USA im Ernstfall nicht helfen können, weil sie woanders beschäftigt sind. Und auch Politikwissenschaftlerin Liana Fix glaubt, dass sich die Nato entsprechend der Weltlage verändern muss: "Die grundlegende Herausforderung für die Europäer in Zukunft wird sein, zu zeigen, warum sie auch nützlich sein können und nicht nur ein Profiteur von US-amerikanischer Sicherheit sind."
Und die Amerikaner haben uns gesagt: Russland ist euer Problem.
Eine europäische Armee?
Gibt es auch Alternativen zur Nato, etwa eine einheitliche europäische Armee? Im Vertrag über die Europäische Union findet sich immerhin mit Artikel 42 bereits eine eigene Beistandsgarantie, ähnlich wie Artikel fünf der Nato. Doch am Ende besteht auch die EU aus 27 Mitgliedsstaaten, die nicht daran denken, die Kommandohoheit über ihre eigenen Armeen abzugeben. Dennoch fallen Liana Fix einige Schritte ein, die die Europäer jetzt gehen könnten. "Die Europäer könnten ihre Armeen so aufeinander ausrichten, dass sie komplementär sind, also dass sie miteinander funktionieren. Und damit würden sie immer noch nicht das Level an Abschreckung erreichen, was gegenüber Russland nötig ist. Aber damit hätten sie wenigstens eine Basis erreicht, mit der sie kleine bis mittlere Missionen selbst führen könnten."
Doch bis eine europäische Verteidigungspolitik ohne Unterstützung der USA funktionieren kann, würden Jahrzehnte vergehen und Mittel gebraucht, die weit höher sind als die heute geforderten zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes der europäischen Mitgliedsstaaten, sagt Liana Fix. "Nur das Geld bereitzustellen reicht nicht. Es müsste produziert werden. Es müssten Waffensysteme hergestellt werden, von denen Europa heute nur träumen kann, über die es überhaupt nicht verfügt." Bis dahin gibt es für eine glaubwürdige Abschreckung, um die Sicherheit Europas zu gewährleisten, keine militärische Alternative zur Nato.
Mit Geschichte und Gegenwart der Nato befasst sich auch die ARD-Story "Nato – Wer wird Europa beschützen?", die ab sofort in der ARD-Mediathek zu finden ist – folgen Sie bitte dem Link unten, um die Doku zu sehen.
Dieses Thema im Programm: Das Erste | ARD Story | 03. April 2024 | 22:50 Uhr