Ukraine Russland nimmt AKW-Infrastruktur ins Visier: Frieren die Ukrainer bald im Dunkeln?
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16. Oktober 2024, 08:16 Uhr
Russland könnte schon bald die mit den ukrainischen Atomkraftwerken verbundene Infrastruktur angreifen – davor warnen seit Wochen Präsident Selenskyj und sein neuer Außenminister Sybiha. Schon seit Ende März beschießt Russland systematisch ukrainische Energieanlagen. Mit Angriffen auf Umspannwerke und Transformatoren der AKWs könnte Moskau die Krise im Stromsystem der Ukraine zusätzlich verschärfen. In der kalten Jahreszeit wäre das fatal und könnte mehr Menschen zur Flucht bewegen.
Geheimdienste: Beschuss der AKW-Infrastruktur möglich
Es sind Meldungen, die Ende September in der Ukraine, aber auch weit über das Land hinaus für Schlagzeilen sorgten. Zunächst einmal warnte Außenminister Andrij Sybiha davor, dass Russland in diesem Winter die Infrastruktur der Atomkraftwerke ins Visier nehmen könnte, die sich noch unter Kiews Kontrolle befinden (das AKW Saporischschja ist seit 2022 besetzt). Während seines US-Besuchs betonte auch Präsident Wolodymyr Selenskyj mit Verweis auf Geheimdienstinformationen, dass Moskau für die Planung solcher Angriffe bereits chinesische Satellitenbilder benutzt.
Dass die Angelegenheit ernst ist, ist jedoch auch ohne vertrauliche Information der Militäraufklärung klar. Denn schon bei der ersten russischen Beschusswelle gegen Energieanlagen im Winter 2022/2023 wurden vereinzelt Umspannwerke und Transformatoren der Atomkraftwerke angegriffen. Dies sorgte dafür, dass die AKW vorübergehend heruntergefahren werden mussten. Trotz massiver Probleme mit der Stromversorgung war es den Russen damals nicht gelungen, einen vollen Blackout in der Ukraine zu erzeugen. Für drei bis vier Tage blieb die Situation aber in sehr vielen Gegenden des Landes kritisch, bis alles Nötige wieder an das System angebunden wurde.
Experte: Reaktoren sicher, Umspannwerke nicht
Dass Russland diesmal Atomkraftwerke direkt angreift, ist laut Wolodymyr Omeltschenko, der das Energieprogramm an der Kiewer Denkfabrik Zentr Rasumkowa leitet, unwahrscheinlich. Diese seien viel zu sicher gebaut worden, deswegen würden selbst Raketenangriffe keinen Sinn ergeben. Dass die Russen aber wieder auf Umspannwerke und Transformatoren zielen werden, gilt mittlerweile als gesetzt. Zumal es Ende September bereits Drohnenvorfälle gab, bei denen Russland in einem Fall den Angriff nahe des AKW Chmelnyzkyj in der Westukraine simulieren wollte. In einem anderen Fall flog eine Kampfdrohne auffällig niedrig über dem Industrieplatz des AKW Riwne.
Doch was ist die große Strategie, die Russland vermutlich verfolgt? Auffällig ist, dass Russland seit Ende März ukrainische Gas-, Kohle und Wasserkraftwerke gezielt mit den teuersten Raketen angreift, die es in seinem Arsenal hat: aeroballistischen Kinschals und ballistischen Iskanders. Diese können nur von US-amerikanischen Patriot-Systemen oder vom italienischen System SAMP/T abgefangen werden, von denen Kiew jedoch nur sehr wenige hat.
Malt Selenskyj den Teufel an die Wand?
Ob Russland tatsächlich alle Wärme- und einen "bedeutenden" Teil der Wasserkraftwerke "vernichtet" hat, wie Selenskyj in seiner Rede vor der UN-Generalversammlung sagte, lässt sich kaum verifizieren. Es könnte auch durchaus sein, dass die Ukraine ein wenig übertreibt, damit der Feind den Eindruck bekommt, der Schaden sei größer als dieser tatsächlich ist. Unumstritten ist jedoch, dass die Situation kritisch ist.
Schon in den heißen Sommertagen, als Klimaanlagen verstärkt eingeschaltet wurden, konnten längere Stromausfälle in Kiew und anderen Städten nicht mehr vermieden werden. Teilweise folgten in der Hauptstadt bereits im Juli auf sieben stromlose Stunden erst zwei Stunden mit garantierter Stromversorgung.
Lange Wärme- und Stromausfälle im Winter?
Jetzt, kurz vor Beginn der Heizungssaison, sind Stromprobleme zwar fast unbemerkbar, doch dies wird sich schnell ändern. Dabei spielen Atomkraftwerke und derer Infrastruktur eine Schlüsselrolle. "Selbst bei einem idealen Szenario werden wir im Winter ein Defizit von mindestens 4,5 Gigawatt im System haben", sagte Swjatoslaw Pawljuk, Exekutivdirektor des Verbandes der energieeffizienten Städte der Ukraine, im Fernsehsender Espresso. "Russland setzt sich das Ziel, das Leben in der Ukraine einzufrieren. Stand jetzt produzieren drei Atomkraftwerke rund 70 Prozent des Stroms. Wir haben daher drei angreifbare Punkte, die verwundbar sind. Selbst ein zeitlich begrenzter Ausfall eines Atomkraftwerkes wird sich kritisch auf die Arbeit des Energiesystems auswirken."
Im Klartext heißt dies: Während planmäßige Stromausfälle im Winter sowieso unvermeidlich sind, kann Russland mit Angriffen auf Umspannwerke und Transformatoren der Atomkraftwerke dafür sorgen, dass in Teilen der Ukraine sogar wochenlange Ausfälle von Strom, Heizung und Leitungswasser möglich sind – ein Szenario, das man im Winter 2022/2023 noch verhindern konnte. Es ist ein zynischer Bestandteil der russischen Zermürbungsstrategie, die die Ukrainer im Hinterland langfristig ermüden soll.
Kommen noch mehr Ukrainer nach Deutschland?
Ob diese irgendwann so aufgeht, wie sich das der Kreml wünscht, ist eine offene Frage. Denn einerseits ist die von Moskau schon vor zwei Jahren gewünschte neue Flüchtlingswelle aus der Ukraine ausgeblieben. Zum anderen weiß nach dem Winter 2022/2023 tatsächlich jede und jeder im Land, was auf sie bald zukommen kann. Mit Generatoren, Kerzen oder Powerbanks sind so gut wie alle Ukrainer bestens versorgt. Auch zweieinhalb Jahre nach Beginn des vollumfänglichen Krieges bleibt der Widerstandswille der Ukrainer groß.
MDR (baz)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 19. Oktober 2024 | 07:17 Uhr