Ukraine-Krieg Strom in der Ukraine knapp und teuer wie nie
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01. August 2024, 05:00 Uhr
Der dritte Kriegssommer in der Ukraine, das heißt, intensiver russischer Beschuss und akute Stromknappheit. Trotzdem versuchen die Menschen, so weit es geht ihrem ohnehin beeinträchtigten Alltag nachzugehen. Den unterbrechen sogar wieder Musikfestivals, doch die Sorgen sind allgegenwärtiger denn je.
Extreme Hitze, das Rattern von Benzingeneratoren und das Heulen des Luftalarms – das müssen die ukrainische Hauptstadt Kiew sowie viele Hinterlandsregionen gerade im dritten Sommer der russischen Vollinvasion erleben. Eine Katastrophe ist die aktuelle Lage für die Ukraine trotzdem nicht: Zwar behält die russische Armee seit Oktober ständig die Initiative an der Front, ganz große Durchbrüche sind ihr aber nicht gelungen. Auch der Versuch, im Norden der Region Charkiw eine neue Front zu eröffnen, kann als gescheitert gelten. Dennoch erlebt die Ukraine eine der schwierigsten Phasen in diesem Krieg, was auch in der Hauptstadt mit ihren rund drei Millionen Einwohnern zu spüren ist.
Wieder massive russische Angriffe auf Kiew
Erst wenige Wochen liegt einer der massivsten russischen Luftangriffe zurück, die Kiew seit Februar 2022 erlebt hat und der in seiner Brutalität nicht nur die Ukraine erschütterte. Am Montag, den 8. Juli gegen 10 Uhr morgens, als viele Menschen auf den Straßen unterwegs waren, beschoss die russische Armee zentrale Gegenden der Stadt. Eine der russischen Raketen traf ein Gebäude des landesweit bekannten Ochmatdyt-Kinderkrankenhauses, die Trümmer von einer weiteren fielen auf eine private Geburtsklinik. Mehr als 30 Menschen starben. Von diesem Schockmoment, der die Menschen aber auch erneut vereinte, hat sich Kiew inzwischen erholt – auch wenn es weiterhin angegriffen wird und offenbar für Moskau zu den lohnenswertesten Angriffszielen zählt. Und doch ist es bei weitem nicht nur die unverändert geltende Sperrstunde zwischen Mitternacht und fünf Uhr früh, die eindeutig zeigt: Der Alltag hier ist alles andere als normal.
In Kiew nur den halben Tag Strom
"Einen Generator habe ich mir noch im Herbst 2022 gekauft, zu einem überhöhten Preis wegen der damaligen Nachfrage", erzählt etwa Andrij, Besitzer eines kleinen Kaffeehauses im schicken Kiewer Randbezirk Obolon. Als bis Mitte März 2023 die erste Welle der russischen Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur lief, hat er den Generator tatsächlich häufiger gebraucht. Im darauffolgenden Winter 2023/24 lag der Fokus des russischen Beschusses dann entgegen aller Erwartungen eher nicht auf Energieobjekten und größere Stromprobleme gab es lediglich in Frontnähe. "Da dachten wir alle schon, dass wir es geschafft hätten und dass neue Stromabschaltungen frühestens im Spätherbst kommen würden", meint Andrij. Es kam anders. Seit Ende März dieses Jahres beschießt Russland die Energieinfrastruktur wieder und die Generatoren sind in Kiew an jeder Ecke zu hören. Die aktuelle Stromversorgung in der Stadt ist im Schnitt sogar schlechter als im Winter vor eineinhalb Jahren.
Mehrere Tage lang kein Strom, keine Heizung und kein Leitungswasser, das gab es episodisch in größeren Stadtteilen unmittelbar nach Beschuss im Winter 2022/23 auch. Im schlechtesten Fall sah der Plan der Stromausfälle jedoch abwechselnd drei Stunden mit und drei Stunden ohne Strom vor. Im Moment gehen planmäßige Ausfälle aber deutlich darüber hinaus und die Zeitabschnitte am Tag, in denen es Strom gibt, sind in in Kiew kürzer als die, in denen er ausfällt. Einerseits hat das bei großer Hitze mit den vielen laufenden Klimaanlagen zu tun, die viel Energie verbrauchen. Deswegen sind Ausfälle während der Juli-Hitze besonders lang. Vor allem aber ist es die veränderte Taktik Russlands, die ihre Auswirkungen hat.
Massive Stromknappheit und gestiegene Preise
Im Winter 2022/23 schoss Russland seine Raketen und Drohnen vor allem auf die Transformatoren der Umspannwerke, damit der Strom nicht beim Endkunden ankommen konnte. Bei der aktuellen Beschusswelle setzt Russland aber seine teuersten und genauesten Raketen massiv gegen Wärme- und Wasserkraftwerke ein. Kohle und Gas fallen als Energieträger weitestgehend aus – mindestens vorübergehend – und zwei große Wasserkraftwerke wurden durch russische Angriffe bis auf Weiteres funktionsuntüchtig gemacht.
Zwar wird trotz der Besatzung des Atomkraftwerkes Saporischschja der meiste Strom in der Ukraine aus Kernkraft erzeugt – und Atomkraftwerke selbst wurden von Russland bisher nicht angegriffen, obwohl es Beschuss von dazugehörigen Umspannwerken gab. Aber Stromabschaltungen für notwendige Wartungsarbeiten an den AKW verschärfen die derzeitigen Stromdefizite noch. Die Arbeiten sind nötig, damit der Strommangel im Winter nicht allzu katastrophal wird.
Wenn sich das Wetter im September abkühlt und auch die Klimaanlagen nicht mehr so viel laufen, wird sich die Lage wohl etwas verbessern. "Für den Winter sind aber Ausfälle wie jetzt sowieso ein eher optimistisches Szenario", warnt Adrian Prokip, Energieexperte vom renommierten Think Tank Ukrainisches Zukunftsinstitut. Schätzungen gehen von einem Schaden von mindestens einer Milliarde US-Dollar an der ukrainischen Energieinfrastruktur seit Beginn der russischen Großinvasion aus. So war es unausweichlich, dass per Regierungsbeschluss ab Sommer die Stromtarife um rund 50 Prozent erhöht werden mussten. Auch die Steuern wird der Staat in absehbarer Zeit deutlich erhöhen müssen, denn die größeren Lücken im Staatshaushalt werden sich nicht anders stopfen lassen. Doch die Menschen haben wenig Verständnis für die Probleme des Staatshaushalts, da sich die persönliche finanzielle Lage für die Allermeisten seit dem 24. Februar 2022 merklich verschlechtert hat.
Mobilisierungsangst und kleine Momente der Freude im Krieg
Zum russischen Beschuss, der Stromknappheit, den gestiegenen Strompreisen sowie dem ausbleibenden militärischen Sieg kommt auch noch die sensible Frage der Mobilisierung hinzu. Schließlich muss die Ukraine im Verteidigungskrieg gegen das größte Land der Welt mit der Zeit immer mehr Menschen ohne militärische Erfahrung mobilmachen. "Es ist halt eine Frage, die in der Luft liegt und mit der alle Männer mental konfrontiert sind", erzählt Kaffeehaus-Besitzer Andrij in Kiew. "Mich beschäftigt sie zwar jetzt nicht so sehr, doch ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte gar keine Angst."
So versuchen die Menschen in der Hauptstadt und anderswo, trotz der Umstände so lange es geht, dem vom Krieg bereits eingeschränkten Alltag nachzugehen. Mitte Juli fand etwa wieder Atlas Weekend, ein großes und wichtiges ukrainisches Musikfestival, statt. Das Line-up war überwiegend ukrainisch, viele Generatoren ratterten und es fand an einer Location mit der größten Tiefgarage des Landes statt, die als Luftschutzkeller diente. Außerdem war es erklärtes Ziel, so viel Geld wie möglich für die ukrainische Armee zu sammeln. "Diese Momente der Freude sind gerade jetzt extrem wichtig. So viele Freunde wieder lachend zu sehen, war cool", meint Alina, eine Besucherin Ende 20. "Meine Gedanken sind aber vor allem bei den Jungs an der Front."
Dort geht es der ukrainischen Armee im Moment vor allem darum, bis Jahresende durchzuhalten. Um dann, wenn sich die gesteigerte Munitionsproduktion im Westen in der Ukraine bemerkbar macht, den langsamen, aber kontinuierlichen russischen Vorstoß zumindest zu stoppen. Wohl eine machbare Aufgabe, deren Erfüllung jedoch von vielen Faktoren abhängt, die Kiew selbst kaum beeinflussen kann – wie zum Beispiel die innenpolitische Lage in den USA nach den Präsidentschaftswahlen im November.
MDR (usc)
Dieses Thema im Programm: MDR Aktuell Nachrichtenradio | 19. Juli 2024 | 10:35 Uhr