Krieg gegen die Ukraine Mobilmachung in Russland: Verstecken, Wegrennen oder Fügen
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21. Oktober 2022, 18:06 Uhr
Seit Wochen werden Männern in Russland Einberufungsbescheide zugestellt. Während sich die einen fügen, versuchen andere unterzutauchen oder Schlupflöcher zu nutzen, um nicht in den Krieg ziehen zu müssen.
Seit ein paar Tagen, sagt Alex D., fühle er sich wie in einem Spionagefilm. Seine Bankkarte benutzt der Russe nun nicht mehr, soziale Netzwerke wie Instagram und Whatsapp sind nun für ihn tabu, auch eine Pizza oder ein Taxi per App bestellen, wie er es sonst hin und wieder gemacht hat, geht nicht mehr. "Allen meinen Freunden sage ich, dass ich bald wegfahre und keine Zeit für ein Treffen habe", sagt Alex. "Es ist besser, dass keiner weiß, wo ich gerade bin." Einen guten Freund bat er, eine Sim-Karte auf seinen Namen zu besorgen.
Alex ist 33 und wohnt in einer Großstadt nur zwei Autostunden von Moskau entfernt. Sein Geld verdient er mit der Beratung von chinesischen Unternehmen, die in Russland Fuß fassen wollen. An Wochenenden legt er von Zeit zu Zeit als Hobby-DJ in Moskauer Clubs und Bars auf. Doch seit vor kurzem zwei Männer in Militäruniform an der Tür klingelten, ist sein altes Leben vorbei. Die Männer waren gekommen, um Alex einen Einberufungsbescheid zu übergeben. Sein Glück: Seine Meldeadresse ist die Wohnung seiner Großmutter, wo er nur öfter zu Besuch ist. Seine richtige Wohnung taucht in der Datenbank des Wehramtes nicht auf.
Der Bescheid muss persönlich übergeben werden
Alex ist einer von mindestens 200.000 Männern, die bereits einen solchen Bescheid bekommen haben und sich nun eigentlich beim Wehramt melden müssten. Da er den Bescheid jedoch nicht persönlich überreicht bekommen und unterschrieben hat, droht ihm nach russischem Recht bislang nur eine Geldstrafe. In der Praxis, warnen Juristen, könnte die Strafe bis auf zwei Jahre Freiheitsentzug steigen, sollte der Bescheid nach allen bürokratischen Regeln, also am Wohnort persönlich und zur Unterschrift übergeben werden. Deswegen beschloss Alex, kein Risiko einzugehen und soweit es geht unterzutauchen. "Ich weiß, das mag vielleicht paranoid klingen, aber sicher ist sicher."
Tatsächlich hatte Wladimir Putin ursprünglich behauptet, dass es sich nur um eine Teilmobilisierung handele, dass also nur Männer eingezogen würden, die den Wehrdienst absolviert oder Kampferfahrung gesammelt haben. In Wahrheit jedoch waren in dem entsprechenden Dekret des Präsidenten keine Einschränkungen der Mobilisierung enthalten. Erst später wurden Ausnahmen für Studenten, für Mitarbeiter des Finanzwesens und der IT-Branche und für Arbeiter von Rüstungsbetrieben eingeführt. Ausnahmen gelten auch für Männer mit mehr als drei Kindern. Gleichwohl häufen sich Berichte auch in staatlichen Medien, dass diese Richtlinien von den regionalen Wehrämtern geflissentlich ignoriert werden. Selbst Präsident Wladimir Putin übte – sichtlich bemüht, die Verunsicherung der Bevölkerung zu mindern – vorsichtige Kritik an der Umsetzung der Mobilisierung. Diese gehe mit "viel Blödsinn einher", sagte er bei einem Auftritt vor Lehrern Anfang Oktober.
Ernüchterung über den Zustand der Armee
Michail aus Murmansk fällt unter keine der offiziell geltenden Ausnahmeregelungen. Vielmehr war er als gedienter Marinesoldat mit der höchsten Eignungsstufe A gleich vom ersten Tag der Mobilisierung an ein aus Armeesicht perfekter Kandidat. "Ich wusste, dass sie mich einziehen können. Ich hatte auch nicht vor, mich zu verstecken, schließlich war ich schon bei der Armee und weiß, wie man eine Waffe hält", erklärt der 37-Jährige. Den Krieg in der Ukraine habe er mit gemischten Gefühlen verfolgt. "Beide Seiten betreiben Propaganda, wenn es jedoch darum geht, mein Land zu verteidigen, kann ich mich nicht wegducken", argumentiert der Russe.
Doch schon die ersten Tage der offiziellen Mobilisierungskampagne sorgten bei ihm für Ernüchterung. Über Freunde und Bekannte beim Militär habe er mitbekommen, wie chaotisch die Vorbereitung laufe. Soldaten müssten sich Schutzwesten, Schuhe und Kleidung selbst zusammenkaufen, während die Trainingseinheiten auf ein Minimum reduziert seien. Als dann vor wenigen Tagen ein Einberufungsbescheid im Briefkasten lag, hatte Michail seine Meinung bereits geändert. Auch seine Frau habe auf ihn eingeredet. "In einem Krankenhaus haben mir die Ärzte dann den Tipp gegeben, dass ich mit meinen Rückenproblemen eigentlich vorübergehend untauglich bin", berichtet der 37-Jährige. Nun hofft er, mit einem ärztlichen Attest zumindest noch genug Zeit zu gewinnen, um sich weitere Schritte zu überlegen.
Viele wollen nicht ins Ausland
Obwohl viele Russen das Land verlassen haben, um sich dem Zugriff der Armee zu entziehen, wollen sich doch längst nicht alle der Einberufung enziehen. Denis S. lebt in der kleinen sibirischen Stadt Kogalym. Seine Familie ist in den frühen 1990er Jahren aus der Ostukraine hierhergezogen. Der 24-Jährige hat vor einigen Jahren seinen Wehrdienst absolviert und arbeitet momentan als Kurier bei einem Onlineshop. "Natürlich will ich nicht in den Krieg ziehen, aber es wurden auch schon Männer mit Familie und Karriere eingezogen, die waren sicher auch nicht scharf drauf, sind aber trotzdem nicht weggerannt", sagt der Russe. Noch hat er keinen Bescheid bekommen, dieser könnte jedoch von einem Tag auf den anderen im Briefkasten landen. Über Bekannte in der Stadtverwaltung habe seine Mutter erfahren, dass er wohl auf einer Liste von Männern stehe, die demnächst mobilisiert werden sollen. "Meine Familie macht schon ein totales Drama daraus, meine ältere Schwester heult die ganze Zeit und will, dass ich ins Ausland fahre, aber erstens habe ich kein Geld und zweitens weiß ich nicht, was ich da soll", erklärt der Russe. Wenn der Bescheid kommt, werde er sich vorschriftsgemäß beim Wehramt melden.
Sich im Ausland zu verstecken, das kommt für den Hobby-DJ Alex D. ebenfalls nicht in Frage. "Meine Heimat ist hier. Geld habe ich auch nicht", sagt der 33-Jährige. Selbst während seiner Zeit in Moskau, das nicht weit von seiner Heimatstadt entfernt liegt, habe er sich einsam gefühlt. Außerdem habe seine 84-jährige Großmutter keinen mehr außer ihm. Ihre Gesundheit sei nicht mehr die beste. Vor wenigen Tagen hat er sie das erste Mal nach vielen Tagen wieder besucht. "Wir haben uns im Hinterhof gesehen, damit mich die Beamten nicht doch zu Hause antreffen, wenn sie noch einmal wiederkommen", erzählt der Russe. Es sei schon ein "Scheiß-Gefühl" sich plötzlich verstecken müssen. "Aber besser so, als in den Krieg zu ziehen."
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 08. Oktober 2022 | 07:15 Uhr