Krieg gegen die Ukraine Wie Russland vom Iran lernt, westliche Sanktionen zu umgehen
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17. August 2022, 10:07 Uhr
"Bald leben wir alle wie im Iran", war in Russland nach dem Angriff auf die Ukraine oft zu hören. Der Grund: die Sanktionen. Etwa 3.600 hat die westliche Welt gegen den Iran verhängt, fast 11.000 gegen Russland.
Russland und der Iran – der Vergleich drängt sich heute unwillkürlich auf. Beide Länder gelten derzeit im Westen als Schurkenstaaten. Beide sind komplett oder teilweise vom SWIFT-System ausgeschlossen. Beide leiden unter sanktionsbedingtem Mangel an Bauteilen, besonders in der Luftfahrt und Automobilindustrie. Beiden macht das Ölembargo zu schaffen. Das Interesse der russischen Führung am Iran ist seit Kriegsbeginn stark gestiegen. Anfang Juli hatte sich der russische Vize-Premier Alexander Nowak mit dem Chef der iranischen Zentralbank getroffen. Kremlchef Wladimir Putin reiste im Juli selbst nach Teheran.
Das Wichtigste, was die Islamische Republik den Russen bieten kann, ist wohl ihre jahrelange Erfahrung in der Umgehung westlicher Sanktionen. Moskau könnte sich in der Tat einiges bei den Iranern abschauen, glaubt die Ökonomin und Iran-Expertin Nina Mamedowa von der staatlichen Russischen Akademie der Wissenschaften. "Russland wird es in nächster Zukunft nicht leicht haben. Deswegen mehren sich die gegenseitigen russisch-iranischen Besuche."
Öl-Panschen auf hoher See
Gegen das Öl-Embargo etwa hilft ein Trick. Er heißt "Blending": Das Erdöl aus einem sanktionierten Land wird mit "politisch unbedenklichem" Öl vermischt. Oft geschieht das auf hoher See, wo Tanker mit ausgeschaltetem Peilsender ihre Ölladung auf ein anderes Schiff verlegen. Am Ende kann niemand mit Gewissheit sagen, woher das Produkt stammt. Dieses "iranische Öl-Schema" funktioniert in der Regel problemlos. "Alle wissen davon und alle tun so, als ob sie nichts wüssten", sagt Ökonomin und Iran-Expertin Mamedowa. Hinweise verdichten sich, dass auch Russland seit einigen Monaten von diesem Trick Gebrauch macht. Die Zahl von russischen "Geisterschiffen" hat sich laut britischen Medien seit Kriegsbeginn verdreifacht. Oft stechen diese zudem mit der Kennzeichnung "Bestimmungsort unbekannt" in See, schreibt The Wall Street Journal.
Iranisches Öl werde außerdem mit einem großen Discount verkauft. "Wer würde denn auf billiges Öl verzichten?", fragt Iran-Expertin Mamedowa. Auch Russland verkaufte sein Öl zuletzt mit Preisnachlass – von bis zu 30 Prozent – und hat damit Saudi-Arabien als wichtigsten Ölexporteur Chinas verdrängt. Im Mai importierte China laut Nachrichtenagentur Reuters mit 8,42 Millionen Tonnen eine Rekordmenge an russischem Öl – 55 Prozent mehr als im Vorjahresmonat. Zudem stieg Russland im Juni zum zweitwichtigsten Öllieferanten Indiens nach dem Irak auf.
Parallelimporte
Ein weiterer Trick, mit dem Russland versucht, die Sanktionen zu umgehen, ist offenbar die Nutzung sogenannter "Parallelimporte". Gemeint ist die Einfuhr westlicher Waren über Drittländer ohne Zustimmung des Herstellers. Demnach kann ein Hersteller oder Markeninhaber nach dem Erstverkauf seines Produkts einem Dritten nicht grundsätzlich verbieten, diese Ware noch einmal weiterzuverkaufen. Kremlführung und russische Regierung haben im Juni entsprechende Regelungen erlassen und Listen mit Marken herausgegeben, für die solche Parallelimporte möglich sein sollen. Dazu gehören Land Rover und Tesla oder die Geräte von Apple, Samsung oder Nokia.
Apple etwa kann sich also offiziell weigern, iPhones nach Moskau zu liefern, russische Händler aber nicht daran hindern, diese einfach in Nachbarstaaten wie Kasachstan einzukaufen und zu verschiffen. Viele ausländische Händler hätten zwar Angst vor westlichen Sekundärsanktionen und mieden deshalb Geschäfte mit russishen Firmen, sagt Juri Bondarenko, Marketingleiter des Vertriebshändlers BuyCisco, gegenüber dem Portal Infotech. Doch "um diese Hindernisse zu überwinden, werden Firmen in Drittländern einbezogen, die mit russischen Unternehmen in keiner Weise verbunden sind." Eine solche zwischengeschaltete Firma verlängere zwar die Lieferzeit von Waren, könne aber bei der Sanktionsumgehung helfen. Auch der Iran praktiziert seit Jahren Parallelimporte, weshalb in der Islamischen Republik sowohl iPhones als auch Coca-Cola gekauft werden können.
"Flugzeug-Kannibalismus"
Diese Methode funktioniert allerdings nicht in der Luftfahrtbranche . Auch wenn es Russland gelingen sollte, Flugzeugteile aus Drittländern zu importieren, wird dadurch die Frage der Wartung von kritisch wichtigen Systemen wie etwa Triebwerken nicht gelöst, die ausschließlich im Ausland durchgeführt wird, sagt der Experte Boris Rybak von der Beratungsfirma Infomost gegenüber Business.FM. Gerade in der Zivilluftfahrt haben sowohl der Iran als auch Russland die größten Probleme. Neue Ersatzteile werden nicht geliefert, Flüge werden nicht mehr versichert. Die Lösung: "Flugzeug-Kannibalismus". Den scheinen sich die Russen ebenfalls bei den Iranern abgeschaut zu haben. So hat der russische Billigflieger Pobeda vor Kurzem angekündigt, 40 Prozent seiner Flotte für Ersatzteile auszuschlachten. Auch Russlands größte Fluggesellschaft, die staatlich kontrollierte Aeroflot, hat laut Nachrichtenagentur Reuters damit begonnen. Demnach würden zurzeit mindestens ein Suchoi Superjet 100 sowie ein fast neuer Airbus A350 ausgeweidet.
Finanzverkehr jenseits von SWIFT
Russland will vom Iran außerdem lernen, wie iranische Banken unter den Sanktionen überleben. "Wofür man die Iraner loben kann, ist deren Entscheidung, noch in der ersten Sanktionswelle im Jahre 2012 ihre Banken privatisiert zu haben. Private Banken haben es da leichter, während die staatlichen Finanzinstitute strengere Regeln befolgen müssen", sagt Ökonomin und Iranexpertin Mamedowa. Infolge der gegenseitigen russisch-iranischen Besuche wurden eine Reihe von Vereinbarungen getroffen. Teheran und Moskau arbeiten derzeit an einem gemeinsamen Interbankensystem, das als SWIFT-Alternative dienen soll. Außerdem soll im Iran bald das russische Zahlungssystem "Mir" – die russische Alternative von Visa und MasterCard – eingeführt werden.
Teheran verzichtet zudem immer mehr auf den US-Dollar im Außenhandel und setzt stattdessen auf Landeswährungen, vor allem im Handel mit China und Indien. Der bilaterale Handel zwischen Russland und dem Iran wird derzeit zu 70 Prozent in Rubel geführt, der Kreml will diesen Anteil weiter erhöhen. Bei einem Ausschluss aus internationalen Finanzsystemen kann auch Tauschhandel helfen. Laut iranischen Medien haben Moskau und Teheran vereinbart, dass der Iran künftig russischen Stahl im Tausch gegen Autoteile und Gasturbinen erhält.
Im selben Boot, und doch anders
Doch bei allen Gemeinsamkeiten in der Abwehr westlicher Sanktionen hinkt der Vergleich zwischen dem Iran und Russland. Zwar ist der Rohstoffhandel für beide Länder eine der wichtigsten Einnahmequellen. Russlands Abhängigkeit ist jedoch deutlich geringer: Der Verkauf von Energieträgern macht etwa 36 Prozent der russischen Staatseinnahmen aus – beim Iran sind es dagegen etwa 60 Prozent, wie aus Daten von Economist Intelligence Unit hervorgeht.
Russland ist zudem industriell und technologisch entwickelter. "Der Iran hatte den Übergang von einer Agrar- zu einer agrarindustriellen Nation erst in den 1960er und 1970er Jahren geschafft. Damals war die Sowjetunion auf einem weitaus höheren Entwicklungsstand", sagte Adlan Margojew vom Zentrum für Nahost-Forschung des Moskauer Staatlichen Instituts für Internationale Beziehungen gegenüber der Nachrichtenagentur Interfax. Die russische Wirtschaft von heute ist zudem siebenmal größer als die iranische bei Sanktionsbeginn im Jahr 2012. Das russische BIP betrug 2021 1,7 Billionen US-Dollar, das iranische lag 2012 laut Weltbank bei etwa 640 Milliarden US-Dollar.
Moskau war zudem auf die jüngsten Sanktionen nicht unvorbereitet, was deren Wirkung etwas abgeschwächt hat. Die USA hatten bereits 2014 nach der Annexion der Krim mit einer SWIFT-Blockade gedroht. Russland hatte seitdem genug Zeit, um sein eigenes SWIFT-Gegenstück zu entwickeln.
Die russische Zentralbank hat zudem schon Erfahrung in der Stabilisierung des Rubelkurses, der heute dank strategischer Entscheidungen des Geldinstituts sogar das Vorkriegsniveau erreicht hat. Um die eigene Abhängigkeit von westlichen Waren zu verringern, setzt Moskau außerdem seit 2014 eine Politik der "Importsubstitution" um – wenn auch mit mäßigem Erfolg. Ein nennenswerter Durchbruch konnte offenbar nur bei Lebensmitteln erzielt werden, vor allem bei Schweinefleisch, Geflügel und Gemüse. Bei Non-Food-Waren wie Kleidung, Computer und sonstiger Technik ist die Importabhängigkeit sogar gestiegen, wie aus einer Analyse der russischen Agentur "InfoLine" hervorgeht.
Und doch: Ein Schurkenstaat-Szenario wie im Fall des Iran halten Beobachter für Russland für unwahrscheinlich. "Es ist einfach ein wichtiger Akteur auf der Weltbühne in vielerlei Hinsicht. Russland zu isolieren und zu einem Paria zu machen, ist also eine große Herausforderung", sagte der Experte Daniel Hamilton vom Brookings Institute gegenüber ABC News.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR Aktuell Radio | 13. Juli 2022 | 09:36 Uhr