Ukraine-Krieg Russland: Putin-Gegner helfen geflüchteten Ukrainern
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15. September 2022, 11:32 Uhr
Hunderttausende Ukrainer flohen vor Krieg und Verwüstung nach Russland oder wurden dorthin deportiert. Ein privates russisches Netzwerk versorgt sie mit dem Nötigsten und bringt die Ukrainer auf Wunsch außer Landes.
Irgendwann, sagt Nina Piroschinskaja, habe sie aufgehört zu zählen. Mittlerweile, so die St. Petersburgerin, müssten es zwischen zwei- und dreihundert Menschen sein, denen sie in den vergangenen Monaten geholfen hat, Russland zu verlassen. Mal hat sich Nina selbst ans Steuer ihres Autos gesetzt und brachte eine ukrainische Familie an die einige Hundert Kilometer von St. Petersburg entfernte russisch-estnische Grenze, ein anderes Mal brachte sie andere Freiwillige und Hilfesuchende zusammen, sammelte Geld für Tickets oder stand mit Rat zur Seite.
Nina Piroschinskaja sagt, sie sei "ein ganz normaler Mensch", keine politische Aktivistin. In ihrem früheren Leben leitete sie ein Unternehmen, das klinische Tests für Medikamente durchführte. Im Herbst kündigte sie ihren Job, um sich etwas Erholung zu gönnen, strickte Wollkleidung für den Verkauf. Dann kam der Krieg. "Ich war am Anfang fassungslos, konnte die Berichte gar nicht glauben und war schockiert", erinnert sich die Russin. Mehrere Wochen war sie wie gelähmt von den Nachrichten, sah Freunde emigrieren, fühlte sich ohnmächtig und allein mit ihrer Ablehnung des Angriffs. Ende April beschloss sie, etwas zu unternehmen. Heute ist Piroschinskaja Teil eines losen Netzwerks von Tausenden Russinnen und Russen, die ukrainischen Kriegsflüchtlingen in Russland zur Seite stehen. Die Helfer organisieren sich in Chats und Gruppen auf Telegram. Allein die Petersburger Chat-Gruppe zählt mehr als 10.000 Mitglieder. Ihre Arbeit findet meistens im Verborgenen statt, um nicht die Aufmerksamkeit der russischen Behörden oder der Polizei auf sich zu ziehen. Staatliche Medien ihrerseits berichten, dass den Menschen aus der Ukraine von offizieller Seite ausreichend geholfen werde.
Viele ukrainische Flüchtlinge in Russland bleiben sich selbst überlassen
Tatsächlich jedoch bleibt ein großer Teil der Menschen aus der Ukraine, die in Russland Zuflucht vor dem Krieg gefunden haben, sich selbst überlassen und ist auf Hilfe von Menschen wie Nina Piroschinskaja angewiesen, die sich freiwillig um sie kümmern. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine, sind nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) knapp 2,5 Millionen ukrainische Flüchtlinge nach Russland gekommen. Viele von Ihnen mussten sogenannte Filtrationslager durchlaufen, in denen sie russische Sicherheitsbeamte verhörten und ihre Biographien überprüften. Russische und internationale Medien berichteten von Willkür, Gewalt und schlechter Versorgung in solchen Lagern. Die ukrainische Regierung wirft dem Kreml vor, die Anwohner aus besetzen Gebieten nach Russland zu deportieren. Doch es gibt auch Menschen, die aus freien Stücken nach Russland kommen, weil es für sie die einzige Möglichkeit ist, den Kämpfen zu entfliehen.
"Viele kommen aus dem Kampfgebiet, manche haben schwere Verletzungen oder alles verloren. Andere wiederum sind zu alt, um ein Smartphone zu benutzen und sich selbst über alternative Fluchtwege zu informieren", sagt Helferin Piroschinskaja. Für viele seien deshalb die Evakuierungsbusse der russischen Seite die einzige Gelegenheit aus dem Kriegsgebiet herauszukommen. In Russland werden die Ukrainer meist in Flüchtlingslagern untergebracht, die über das ganze Land verteilt sind. Wer Angst vor der Ungewissheit einer Reise nach Europa oder Verwandte in Russland hat, bleibt oft da und versucht sich so gut es geht in Russland zurechtzufinden. Ein beträchtlicher Teil der Flüchtlinge fährt jedoch weiter über die russische Westgrenze nach Europa.
Was sind Filtrationslager?
Dort werden die verschleppten ukrainischen Staatsbürger von pro-russischen Kräften auf ihre Loyalität zur ihrer Heimat verhört. Wer auf die ideologischen Fragen nicht wunschgemäß antwortet oder beispielsweise Bekannte beim ukrainischen Militär hat, kommt nach ukrainischen Regierungsangaben in eine ehemalige Strafkolonie oder in ein Isolationsgefängnis im Gebiet Donezk.
Als Filtrationslager wurden auch Einrichtungen des sowjetischen Innenministeriums (NKWD) bezeichnet, die während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit zur Ausforschung von "Staatsfeinden" dienten.
Staatlich organisierte Hife für Ukrainer ist in Russland selten
Auf organisierte Hilfe können Menschen aus der Ukraine selten zählen. Eine der wenigen Organisationen, die Flüchtlingen qualifizierte Unterstützung anbietet, ist die unabhängige NGO "Bürgerhilfe", die jedoch nur einem Bruchteil der Menschen unter die Arme greifen kann. "Seit Februar haben wir etwa 1.500 Familien aus der Ukraine geholfen, die sich in Russland aufhalten", sagt der Sprecher von Bürgerhilfe Nikolaj Woroschilow. "Die Menschen kommen zu uns, um zum Beispiel ein Lebensmittelpaket abzuholen und dabei stellt sich heraus, dass sie noch mehr Probleme haben. Viele kommen aus Mariupol und brauchen medizinische Hilfe, haben Probleme mit Behördengängen oder kein Geld zum Leben", sagt Woroschilow. Die staatlichen Stellen seien überlastet, aber auch die Mitarbeiter der NGO seien neun oder zehn Stunden am Tag allein damit befasst, Hilfsbedürftige zu registrieren und mit dem Nötigsten zu versorgen. "Wir helfen vor allem jenen, die in Russland bleiben wollen", sagt Woroschilow. "Viele Menschen würden gerne zurück nach Hause, wollen aber noch abwarten. Bei vielen sind die Wohnungen zerstört. Wer aber weiter nach Europa reisen will, den leiten wir gerne auch an andere Helfer weiter."
"Ich hatte noch nie Respekt vor Putin"
In solchen Fällen kommen Menschen wie Nina Pirozinksy oder Alla Andrejewa ins Spiel. Von Beruf ist die St. Petersburgerin Andrejewa Versicherungsmaklerin. "Putins Krieg und die wirtschaftliche Krise hat mich auch persönlich getroffen, weil kaum jemand noch neue Autos oder Häuser versichert", sagt Andrejewa. Das Leben ist teurer und das Geld im Portemonnaie weniger geworden. Auch früher war sie schon oft politisch aktiv, hat etwa Unterschriften gesammelt gegen Putins Verfassungsreform 2020, die ihm zwei weitere Amtszeiten ermöglicht hat. Doch diesmal, sagt die 49-Jährige, gehe es ihr um mehr. "Ich hatte noch nie Respekt vor Putin, aber dass er so etwas lostreten würde, habe ich nicht erwartet", sagt die Russin. Die ersten Wochen des Überfalls auf die Ukraine war sie schockiert, habe kaum geschlafen. "Ich begriff, dass ich etwas unternehmen muss, ich will nicht ins Ausland, ich will hier in Russland Verantwortung übernehmen."
Dank des Posts eines oppositionellen St. Petersburger Lokalpolitikers wurde Andrejewa auf die Telegram-Gruppen aufmerksam, in denen sich Russen organisieren, um Ukrainern zu helfen, und schloss sich an. "Mittlerweile haben wir Leute im ganzen Land. Menschen in Rostow am Don im Süden des Landes nehmen die Flüchtlinge aus der Ukraine auf, setzten sie in einen Zug nach Moskau, dort werden sie von anderen Freiwilligen mit Kleidung und Essen versorgt und weiter zu uns nach St. Petersburg geschickt", erzählt die Russin. Petersburg ist wegen der Nähe zur EU Grenze mit Estland und Finnland vor allem eine Anlaufstelle für jene, die auf eine Zukunft in Westeuropa hoffen oder auf diesem Umweg zurück in die Ukraine wollen.
Kontakt zu anderen Helfern in Europa
Auch mit Freiwilligen in der EU steht Andrejewa im Kontakt. Wenn sie eine Familie zur Grenze bringt, warten auf der anderen Seite oft schon neue Helfer, die von ihr benachrichtigt worden sind. Sie selbst habe schon mindestens ein Dutzend Ukrainer an die Grenze gefahren. Bei anderen Gelegenheiten half sie dabei, Flüchtlingsunterkünfte zu putzen oder schrieb Briefe an Abgeordnete, um medizinische Hilfe für Flüchtlinge zu organisieren. Ihr letzter Erfolg: Ein Ukrainer, der bei Kämpfen in Mariupol auf einem Auge zu erblinden drohte, wurde nach einigen Briefen von Andrejewa an lokale Politiker auf eine Warteliste für eine kostenlose Netzhaut-Transplantation gesetzt.
Am meisten in Erinnerung geblieben ist ihr jedoch eine junge Frau, die sie mit dem Auto an die estnische Grenze gefahren hat. "Sie war fast noch ein Kind und kam aus Mariupol. Sie schaute mich mit ihren großen Augen an und fragte, warum Putin die Ukrainer so hasst", erzählt Alla. "Ich kann es selbst nicht verstehen. Ich hoffe aber, dass diejenigen, die dieses Morden verschuldet haben, sich eines Tages vor einem Gericht verantworten müssen."
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR aktuell | 08. September 2022 | 13:36 Uhr