Russlands Angriff auf die Ukraine Mobilmachung in Russland: Zwischen Angst und Pflichtgefühl
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28. September 2022, 13:12 Uhr
Während junge Männer in Russland vor der Mobilmachung fliehen, herrscht an den Grenzen Chaos. Doch längst nicht alle können weg und bei vielen älteren Russen kommt der Krieg erst jetzt in den Köpfen an.
Eigentlich kann sich Andrej Bugajew* in diesem Café in der georgischen Hauptstadt Tblissi in Sicherheit fühlen, doch sein Gesicht ist noch immer angespannt. Sein Körper ist müde von einer langen Odyssee von Sankt-Petersburg nach Georgien. Und die, wie er sagt, "schwierigste Entscheidung seines Lebens", alles in Petersburg stehen und liegen zu lassen, gibt ihm noch immer keine Ruhe.
Als Russlands Präsident Putin vor wenigen Tagen die Mobilmachung ausgerufen hat, konnte Andrej es erst nicht glauben. "Selbst meine Schwiegermutter, die früher Putin unterstützt hat, war schockiert, weinte und sagte, dass sie notfalls selber an die Front geht. Ich konnte mich jedoch nicht mit dem Gedanken anfreunden, wie ein geprügelter Hund meine Heimat zu verlassen", erzählt Andrej. Er selber war von Anfang an gegen den Krieg, demonstrierte schon früher für den Oppositionellen Nawalny und empfindet Russland als einen Staat voller sozialer und politischer Ungerechtigkeit. Nach einigen Tagen Bedenkzeit, als entfernte Bekannte schon erste Einberufungsbescheide erhalten hatten, entschied er sich für die Flucht.
Odyssee ins rettende Ausland
Mit dem Flugzeug ging es für Andrej zunächst nach Naltschik im Nordkaukasus. Direktflüge ins Ausland waren zu der Zeit schon so gut wie ausverkauft. Von da aus fuhr er mit einer Mitfahrgelegenheit nach Wladikawkas und später mit einem Taxi an die Grenze. Weil sich der riesige Stau am Übergang nach Georgien kaum vom Fleck bewegte, beschloss Andrej nach Wladikawkas zurückzufahren und einen zweiten Anlauf mit dem Fahrrad zu nehmen, das er sich in der Stadt besorgt hat.
Am Ende hat es geklappt. "Zwischendurch war ich echt verzweifelt, dass ich es nicht mehr rausschaffe. Jetzt bin einerseits erleichtert, andererseits habe ich keinen Plan, was jetzt kommt. Ich arbeite für einen großen Telekom-Anbieter als Designer und darf per Arbeitsvertrag nicht vom Ausland aus arbeiten", erzählt der Russe. "Ich lasse es aber auf mich zukommen und bleibe erstmal noch bei Freunden in Tbilissi bis meine Frau nachkommt".
Knapp 300.000 Männer haben Russland verlassen
So wie Andrej geht es derzeit Zehntausenden russischen Männern, die vor der Einberufung fliehen. Die Nowaja Gazeta berichtete mit Verweis auf Quellen im Geheimdienst FSB, dass fast 300.000 junge Männer in den vergangenen Tagen das Land verlassen hätten. Berichte über eine mögliche Grenzschließung für Männer im wehrfähigen Alter haben die Panik verstärkt.
Dmitri Malakhow, 34, hat sich Ende vergangener Woche noch eines der letzten verfügbaren Tickets nach Tadschikistan gesichert. Der Flug nach Khudschand, die zweitgrößte Stadt der Republik, kostete den Petersburger fast 1.500, statt der gewöhnlichen 300 bis 400 Euro. Ursprünglich hatte Dmitri geplant mit Freunden nach Georgien zu fahren, doch Berichte über riesige Wartezeiten hatten ihn abgeschreckt.
"Ich kann noch gar nicht sagen, ob ich erleichtert bin oder eher traurig über die ganze Situation", sagt Dmitri am Telefon. In Petersburg hatte er zusammen mit einem Freund ein lokales Mode-Label geleitet. Einen Plan wie es jetzt weitergeht, hat er nicht. "Zuhause in Petersburg habe ich meine Frau und meinen Hund zurückgelassen. Am Anfang dachte ich vielleicht, dass ich mit der Ausreise in die Ungewissheit überreagiere, aber meine Frau hat am Ende darauf bestanden", erzählt Dmitri.
Aufwachen in der Realität des Krieges
Für andere wiederum ist die Flucht kein Ausweg. Alexander Pawlow, 31 Jahre aus Moskau hält es angesichts der Gerüchte über die Grenzschließungen und die langen Wartezeiten jedenfalls nicht mehr für möglich herauszukommen. Außerdem würde sein Geld nur einige Monate reichen. Viele Jahre hat er als Ingenieur bei einem Konstruktionsbüro für die Marine gearbeitet. Eine Position, die ihn vor der Einberufung schützen würde. Vor mehr als einem Jahr kündigte er jedoch seinen Job, um eine Fortbildung zum IT-Fachmann zu absolvieren. Vor wenigen Wochen hatte er seine letzte Prüfung absolviert und schon einige Job-Angebote bekommen. Nun weiß er allerdings nicht, wie es für ihn weitergeht. "Ich habe schon etwas Panik, aber meine Frau ist jetzt schwanger und alleine kann ich in der Situation nicht einfach weg", erklärt Alexander.
In seiner Familie hat die Mobilmachung wie bei vielen in Russland das Weltbild etwas geradegerückt. "Meine Mutter wollte es am Anfang gar nicht glauben und hat alle Informationen über willkürliche Rekrutierungen angezweifelt. Nach einer Weile hat sie aber auch den Ernst der Lage erkannt", sagt der Moskauer. In den vergangenen Monaten hat er viel mit seinen Eltern über Politik diskutiert. Dennoch konnten sie seine Ablehnung des Krieges nicht nachvollziehen. "Dass sich das nun ändert, ist wirklich die einzige gute Nachricht", sagt der Russe.
Wer Familie hat, will oft nicht weg
Für die große Mehrheit der jungen russischen Männer ist die Flucht, wie für Alexander, keine Option. Wer jetzt das Land verlässt, hat entweder finanzielle Reserven, keine Familie oder die Option, aus dem Ausland zu arbeiten. Andere wiederum empfinden es als ihre Pflicht, im Fall der Fälle den Einberufungsbefehl zu befolgen.
Talgat Nigmatullin arbeitet als Ingenieur bei einem russischen Ölkonzern in Sibirien und ist erst am Sonntag aus seinem Türkei-Urlaub zurückgekehrt. Obwohl er wusste, dass er eingezogen werden könnte. "Meine Freunde haben mich für verrückt erklärt, ich habe früher gedient und bin physisch fit also bin ich quasi erste Wahl für die Mobilmachung", erzählt der Russe. Gleichwohl kommt für ihn das Verstecken nicht in Frage, auch wenn er die Möglichkeit hätte.
"Mit meinem Ersparten könnte ich ungefähr ein Jahr lang im Ausland bleiben, ohne zu arbeiten, Familie habe ich auch keine", sagt der 32-Jährige aus dem sibirischen Surgut. Und auch der Krieg mit der Ukraine löst in ihm eher Angst als Patriotismus aus. "Aber zumindest weiß ich, wie man eine Waffe hält und damit schießt – im Gegensatz zu irgendwelchen Jungs, die statt mir eingezogen werden könnten." Wenn der Einberufungsbescheid kommt, hat er deshalb nicht vor, unterzutauchen. "Ich will natürlich nicht in den Krieg ziehen, aber wenn es sein muss, dann muss es halt sein".
* Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 26. September 2022 | 19:30 Uhr