Ein halbes Jahr Krieg in der Ukraine "Viele Menschen in Russland entziehen sich der Wirklichkeit"
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25. August 2022, 17:29 Uhr
Vor sechs Monaten begann Russland seinen Krieg gegen die Ukraine. Unser russischer Kollege Maxim Kireev hatte bis zuletzt nicht geglaubt, dass so ein Szenario eintreten würde. Nur einer von vielen Irrtümern, wie er sich heute eingestehen muss.
Der russische Angriff auf die Ukraine begann für mich persönlich vor einem halben Jahr mit einem Schock. Zwar hatte sich der Krieg rückwirkend betrachtet lange abgezeichnet. Doch dass Wladimir Putin wirklich den Befehl zum Angriff geben würde, wollte ich bis zu dem Moment nicht glauben, als mich am Morgen des 24. Februar ein Freund und Kollege aus Kiew anrief und von ersten Explosionen berichtete. Manchmal blättere ich noch durch ältere Texte aus den Wochen davor, in denen ich selbst alle Argumente, die für einen Krieg sprechen, aufzähle, jedoch einfach nicht die richtigen Schlüsse ziehen wollte. Diese Art von Selbstbetrug hat mich besonders in den ersten Kriegstagen an meiner Arbeit zweifeln lassen.
Viele Russen gingen schnell zur Tagesordnung über
Schockierend fand ich auch, wie schnell sich die russische Öffentlichkeit mit der neuen Realität abgefunden hatte. In den ersten Tagen nach dem Einmarsch wirkte es so, als habe Putin seinen Kredit nun endgültig verspielt: In den sozialen Netzwerken tobte ein Sturm der Entrüstung. Hundertfach las ich von Solidarität mit der Ukraine. Freunde und alte Bekannte meldeten sich plötzlich bei mir, um zu hören, wie es mir geht und was nun getan werden könne. Doch schon die ersten Demonstrationen Ende Februar zeigten, dass die Übermacht der Polizei auf der einen und die Trägheit der desillusionierten und demotivierten Mehrheit auf der anderen Seite einfach zu groß war. Die Proteste schliefen ein, man ging einfach wieder zur Tagesordnung über. Mit großem Befremden nahm ich zur Kenntnis, dass Menschen seelenruhig ins Café gingen oder durch die Stadt schlenderten.
So schief der Vergleich auch sein mag, musste ich in den vergangenen Monaten oft an meine Schulzeit in Jena zurückdenken, als im Geschichtsunterricht die Frage diskutiert wurde, ob so etwas wie die Nazi-Zeit heute noch einmal möglich wäre. Etwa, dass Menschen einen brutalen Angriffskrieg hinnehmen. Ich kann mich noch genau daran erinnern, damals gedacht zu haben, dass heute alles anders sei, dass die Menschen dazugelernt hätten. Ich lag falsch. Genauso falsch liegen heute jene, die den Krieg in der Ukraine, die Verbrechen der russischen Armee, ausschließlich auf Russlands Fehlentwicklungen, seine blutige Geschichte, die fehlende demokratische Tradition und die angeblich gewaltverherrlichende Kultur zurückführen. All das mag eine wichtige Rolle in diesem konkreten Krieg spielen. Den Glauben daran, dass Menschen endgültig aus alten Fehlern lernen können, halte ich unabhängig von den Problemen einer konkreten Nation nun für fahrlässig.
Der Wunsch nach einer harten Hand scheint zuzunehmen
Im Hier und Jetzt spielt das natürlich keine allzu große Rolle. Viel wichtiger ist für mich die Angst, dass Putin am Ende zumindest einen Teil seiner Ziele erreichen wird. Weder das Massaker von Butscha, noch der Beschuss eines Einkaufszentrums in Krementschuk haben die Unterstützung für die Ukraine in meinem Land entscheidend vergrößert oder die Russen wachgerüttelt. Im Gegenteil. Viele Menschen in Russland entziehen sich der Wirklichkeit, um sich selbst, ihren Seelenfrieden, zu schützen. Andere stellen sich klar auf Putins Seite. Und der Kremlchef hat nicht nur Anhänger in Russland! Als ich im Frühjahr nach Deutschland reiste, entgleisten die ersten beiden, zufälligen Unterhaltungen, die ich mit Unbekannten führte, geradezu, weil meine Gesprächspartner mir Putins klugen Plan erklären wollten. Wohlgemerkt waren das keine Russen. Der Hass auf Schwache und der Wunsch nach harter Hand ist leider nicht nur in Autokratien wie Russland im Kommen.
Solidarität für die Ukraine unter dem Radar
Gleichwohl gab es in den vergangenen sechs Monaten auch viele Momente der Hoffnung. Vielfach wird die russische Opposition derzeit in der Ukraine, aber auch in Europa und den USA für ihre Passivität kritisiert. Diese Kritik ist gerechtfertigt. Die putinkritischen Kreise sind nur ein kleiner Teil der Gesellschaft. Tatsächlich haben die ausländischen Medien den Einfluss der russischen Opposition vielfach überschätzt. Empathie und Hilfsbereitschaft, den Mut zum Widerstand, habe ich in den vergangenen Monaten in ganz vielen unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft gesehen, die sich längst nicht alle als politische Opposition bezeichnen würden. Menschen, die ukrainische Flüchtlinge aus Russland herausbringen, die ihnen Unterkunft bieten, im Wissen darum, dass sie deswegen Probleme mit Polizei und Justiz bekommen könnten, Menschen, die mutig und oft allein, gegen den Krieg protestieren, obwohl es mittlerweile Tausende Fälle von strafrechtlicher Verfolgung allein schon für pazifistische Parolen gegeben hat. Viele von ihnen werden im Ausland gar nicht registriert und bleiben unterhalb des Radars der Medien. Die meisten von Ihnen wollen das auch.
Meine Prognose: Russland steuert Richtung Diktatur
Leider werden diese Menschen Putins Kriegsmaschine nicht aufhalten können. Und die Prognose für die nächsten Monate sieht aus meiner Sicht nicht gut aus. Heute, da ich wieder in Russland bin, erkenne ich wie illusorisch die Hoffnung ist, dass das Regime durch friedliche Proteste oder inneren Wandel bald fallen wird. Putin hat in 20 Jahren an der Macht sein System perfektioniert, das auf Unterdrückung jeglichen Widerspruchs getrimmt ist. Meine Prognose ist deswegen alles andere als rosig. Wenn Russland den Ukraine-Krieg ohne Niederlage beenden kann, und Putin seine Macht behält, dürfte er auch das politische System in Russland weiter Richtung Diktatur treiben. Dass er dabei in seinen Methoden nicht wählerisch ist, haben die vergangenen sechs Monate überaus deutlich gezeigt.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 24. August 2022 | 17:45 Uhr