Zivilcourage Wie Russen gegen den Ukrainekrieg protestieren

26. Juli 2022, 13:32 Uhr

Demonstrationen sind in Russland verboten und Kritik am Krieg gegen die Ukraine ist gefährlich. Trotzdem finden viele Russinnen und Russen Wege, um ihren Protest zu zeigen.

Fotomontage Mann vor Fahne
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Dmitrij Skurikhin schreibt mit Farbe und Pinsel Botschaften an eine Hauswand
Dmitrij Skurikhin schreibt mit roter Farbe die Namen von den ukrainischen Städten, die besonders unter dem russischen Angriff leiden mussten, an die Hauswand. Bildrechte: Maxim Kireev/MDR

Dmitrij Skurikhin ist groß gewachsen, trägt einen Vollbart und wirkt wie ein Mann, den man nicht so leicht aus der Bahn wirft. Das Leben auf einem russischen Dorf sei rau, sagt der Russe. Wenn es Streit gibt, dann wird sich schon mal geprügelt. Auch von seiner Gummigeschoss-Pistole hat er im Leben schon ein paar Mal Gebrauch gemacht. Aus Notwehr, versichert der 47-Jährige. Doch als er gerade über die jüngsten Nachrichten aus der Ukraine spricht, muss er sich fest auf den Finger beißen, damit ihm keine Tränen aus den Augen kullern. "Da haben sie ein Kind geborgen nach einem Angriff, wo man nicht feststellen kann, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist", sagt Skurikhin, dessen Stimme beinahe versagt. "Ich muss dabei immer an meine vier Töchter denken. Ich begreife einfach nicht, wie man so etwas tun kann".

Rote Farbe, wie Blut verlaufen

Um mit seiner Fassungslosigkeit fertig zu werden, greift Skurikhin zum Pinsel. Mit roter Farbe schreibt er "Tschasow Jar" auf die hellgelbe Wand seines Dorfladens. Es ist der Name der ukrainischen Stadt, in der vor wenigen Tagen ukrainischen Berichten zufolge ein Wohnhaus von einer Rakete getroffen wurde und mindestens 30 Zivilisten ums Leben kamen. Der Ladenbesitzer erklärt, er nehme extra viel rote Farbe, damit die Buchstaben "wie Blut verlaufen". An Skurikhins zweistöckigem Gebäude, das er unter anderem an lokale Unternehmer vermietet, stehen mittlerweile gut zwei Dutzend ukrainische Ortsnamen: Mariupol, Butscha, Krementschuk und andere Orte, die besonders hart unter russischen Angriffen zu leiden hatten. Wenn Menschen aus dem Örtchen Russko-Wyssozkoje bei Sankt-Petersburg zum Frisör, ins Restaurant oder ihre Bestellung aus dem Onlineshop abholen gehen, laufen sie an diesen blutroten Buchstaben vorbei. "Das ist meine Art, den Menschen die Augen zu öffnen", sagt der Russe.

Das Haus von Dmitrij Skurikhin voller politischer Botschaften am Giebel
Das Haus von Dmitrij Skurikhin ist ein Mahnmal gegen den Krieg. Bildrechte: Maxim Kireev/MDR

Der Unternehmer Dmitrij Skurikhin, der zusammen mit seiner Frau den Dorfladen, eine kleine Baufirma und eine Blumenzucht betreibt, ist einer von unzähligen Russen, die jeden Tag trotz Repressionen seitens der Polizei und immer strengeren Gesetzen gegen den Ukraine-Feldzug Russlands protestieren. Öffentliche Kundgebungen sind in Russland derzeit verboten. Offiziell gelten in diesem einen Punkt noch immer die Corona-Beschränkungen, die ansonsten längst aufgehoben wurden. Und wer sich in den sozialen Netzwerken oder woanders öffentlich gegen den Krieg positioniert, riskiert eine Geld- oder eine Haftstrafe. Die Organisation OVD-Info, die sich für die Reche von politisch Verfolgten einsetzt, zählte seit Beginn des Krieges mindestens 16.000 Festnahmen im Zusammenhang mit Kritik am Ukraine Krieg. Mindestens 2.000 Verfahren leitete die Staatsanwaltschaft wegen sogenannter "Diskreditierung der russischen Streitkräfte" ein. 

Sieben Jahre Gefängnis für die Wahrheit

Besonders hart griff die russische Justiz erst vor wenigen Tagen gegen Alexej Gorinow durch, der bis vor kurzem als oppositioneller Abgeordneter einen Sitz im Moskauer Bezirksrat Krasnoselskij innehatte. Als einige Abgeordnete während einer Bezirksratssitzung im April vorschlugen, einen Malwettbewerb für Kinder zu veranstalten, platzte dem 60-jährigen Gorinow der Kragen: "Wie können wir einen Malwettbewerb veranstalten, wenn in der Ukraine Kinder sterben", sagte Gorinow. Die Sitzung wurde live im Netz übertragen.

Russische T-72B3M Kampfpanzer fahren während einer Militärparade am Tag des Sieges, der den 77. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg markiert, auf dem Roten Platz im Zentrum von Moskau.
Dürfen nicht "diskreditiert" werden: Die russischen Streitkräfte. Hier T-72B3M Kampfpanzer bei einer Parade. Bildrechte: IMAGO / SNA

Kurze Zeit später zeigten gleich zwei Personen den Abgeordneten anonym an. Am vergangenen Freitag wertete eine Moskauer Richterin Gorins Verweis auf sterbende Kinder in der Ukraine als "Diskreditierung der Armee", weil sie nicht den "offiziellen Meldungen des Verteidigungsministeriums entsprechen", und verurteilte Gorinow zu sieben Jahren Gefängnis. Während der Urteilsverkündung hielt Gorinow ein handgeschriebenen Zettel hoch mit der Aufschrift: "Braucht ihr immer noch diesen Krieg?"

Den Mund zugenäht

Gorinow ist der erste Russe, der wegen des im März von der Duma eingeführten Verbots der "Diskreditierung der Streitkräfte" eine Gefängnisstrafe erhalten hat. Aber er dürfte nicht der Letzte sein. Nadeschada Sarafutdinowa ist 40 Jahre alt, lebt allein mit ihrer Tochter in Ekaterinburg und wartet bereits seit einigen Wochen auf ihre Gerichtsverhandlung. Zu Ostern hatte sie zusammen mit ihrer Schwester Flyer gegen den Krieg an eine Kirche geklebt und wurde zum ersten Mal von der Polizei festgenommen und danach wieder auf freien Fuß gesetzt. Doch in ihrer Einstellung gegen den Krieg hat sie der Vorfall nur gefestigt. Am 4. Mai hatte sie ein Plakat mit der Aufschrift "Schweigen ist nicht erlaubt" gemalt.

Anschließend nahm sie eine Nadel und Faden und nähte sich den Mund zu. "Der erste Stich hat am meisten weh getan", erzählt Sarafutdinowa die sich mit zugenähtem Mund auf einen zentralen Platz in ihrer Heimatstadt postierte. "Viel mehr haben jedoch die Reaktionen der Menschen geschmerzt, die mich beschimpft haben. Einige wollten mich um umarmen und unterstützen, andere haben offenbar gleich die Polizei gerufen". erinnert sich die Russin. Die Polizei habe ihr zunächst mit der Einweisung in die Psychiatrie gedroht, dies habe jedoch ihr Anwalt verhindert. Seitdem wartet die 40-jährige auf den Beginn ihres Verfahrens wegen der sogenannten Diskreditierung der Streitkräfte. "Dabei hat sich die Armee doch längt selbst diskreditiert". 

Ein Plakat, sieben Festnahmen

Noch kein Verfahren, dafür aber gleich sieben Festnahmen musste Witali Tsizurow über sich ergehen lassen. Seit knapp einem Jahr lebt der 32-jährige Flugzeugingenieur, der bis 2021 in der Moskauer Niederlassung eines westlichen Flugzeugbauers tätig war, wieder in seiner Heimatstadt Smolensk unweit der Grenze zu Belarus. Im vergangenen Jahr kündigte er seinen Job, wollte sich selbstständig machen, doch dann kam der Krieg. Seitdem steht der Russe Tag für Tag mit einem Plakat in der Hand vor der Stadtverwaltung von Smolensk auf der Straße. Die Aufschrift: "Nein zum Krieg". 

Rund 20 Mal musste er sich deswegen bei der Polizei schriftlich erklären. Nach einer der Festnahmen verbrachte er rund 48 Stunden auf dem Revier, bevor er wieder nach Hause durfte. "Ich habe gemerkt, dass ich mit meinen Ein-Mann-Demos Menschen erreiche und mit ihnen ins Gespräch kommen kann", sagt Tsizurow im Interview mit dem russischsprachigen Onlineportal Meduza. "Den meisten ist alles egal, die gehen einfach vorbei. Jene, die auf mich zukommen, unterstützen jedoch meinen Protest oder zeigen einfach den Daumen hoch", sagt der Kriegsgegner.

Einmal sei er jedoch von zwei Unbekannten verprügelt worden, während ein anderer Mann ihm zur Hilfe eilte. Das Ergebnis: eine gebrochene Nase, die Tsizurow jedoch nicht abgehalten hat, am nächsten Tag wieder sein Plakat zu entrollen. 

Der Preis der Freiheit

Dass die Reaktionen auf öffentlichen Protest gegen den Krieg gemischt ausfallen, gibt auch der Unternehmer Dmitrij Skurikhin zu. "Es gibt Menschen die auf mich zukommen und sich raufen wollen, es gibt auch Zuspruch. Mein Ziel ist es jedenfalls, die Menschen aufzuklären, denn nur die Gesellschaft kann den Krieg beenden", sagt der Russe.

Dmitrij Skurikhin vor Graffiti an einer Hauswand
Wird oft angefeindet, erfährt aber auch viel Zuspruch: Der Unternehmer Dmitrij Skurikhin vor seinem Haus. Bildrechte: Maxim Kireev/MDR

Einer seiner Untermieter, der Betreiber einer Gaststätte habe sich beschwert, dass Kunden geplante Feiern absagen, wenn sie die ukrainischen Städtenamen auf dem Gebäude sehen. Im April wurde er zudem von einem Gericht zu umgerechnet 500 Euro Strafe verurteilt. Skurikhin hat dafür nur ein Achselzucken übrig. "Freiheit ist eben teuer".

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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL FERNSEHEN | 18. Juli 2022 | 19:30 Uhr

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