Russland-Ukraine-Krieg Warum in Russland viele Bücher über Nazi-Deutschland ausverkauft sind
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02. Dezember 2022, 04:57 Uhr
Wer in russischen Buchhandlungen nach Literatur über Nazi-Deutschland und Überlebende des Holocausts sucht, hat derzeit keine guten Karten. Viele Titel sind so stark nachgefragt, dass sie inzwischen ausverkauft sind.
Er sei schockiert gewesen, als der Krieg gegen die Ukraine begann, sagt der 39-jährige Alexej. So wie ihm ging es auch vielen anderen Menschen in Russland. "Ich habe ohne Unterlass Nachrichten gelesen, ich konnte das Handy nicht weglegen und das Fernsehen nicht ausschalten." Weil er aus finanziellen und persönlichen Gründen nicht auswandern könne, habe er sich wie in einer Falle gefühlt. "Du befindest dich im Aggressor-Land, für die Außenwelt bist du ein Ausgestoßener."
So habe er sich nach Geschichten von Menschen gesehnt, die Ähnliches durchlebt hatten. Auf der Suche nach historischen Parallelen gelangte Alexej zu Büchern über Nazi-Deutschland. Eine Bekannte habe ihm dann das Buch "Geschichte eines Deutschen" von Sebastian Haffner empfohlen, Erinnerungen, in denen Haffner den Aufstieg der Nationalsozialisten beschreibt. "Wenn ich durch die Straßen von Moskau gehe, komme ich mir manchmal vor wie einer der Helden dieses Buches, so schrecklich das auch klingen mag." Auch Reiseberichte von Ausländern, die Deutschland in der NS-Zeit besucht haben, landeten auf Alexejs Lektüreliste und außerdem ein Roman über den Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive eines SS-Manns.
Bücher über den Zweiten Weltkrieg werden zu Bestsellern
Viele Menschen in Russland folgten nach dem Schock über den Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 und der Teilmobilmachung Ende September einem ähnlichen Impuls wie Alexej. Zwei Mal stieg der Absatz von Büchern über den Zweiten Weltkrieg und Nazi-Deutschland rasant an.
Besonders gut verkaufen sich die Erinnerungen des österreichischen Psychiaters Viktor Frankl mit dem Titel "…trotzdem Ja zum Leben sagen", in dem er seine qualvollen Jahre in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern schildert. Doch er erzählt auch davon, wie es Menschen unter diesen Bedingungen gelang, einen Sinn im Leben zu sehen. Zwei große Online-Buchhandlungen in Russland geben an, insgesamt 60.000 Exemplare dieses Buches verkauft zu haben. Die Verkaufszahlen steigerten sich bei der Printausgabe laut Alpina Publisher, einem der führenden Verlagshäuser Russlands, im September um 40 Prozent. Der größte russische Anbieter von E-Books vermeldete sogar eine Steigerung von 279 Prozent. Auch andere Berichte von Holocaust-Überlebenden wurden im September beim E-Book-Anbieter Litres um 50 Prozent häufiger gekauft. Für Titel über den Zweiten Weltkrieg meldete die russische Buchhandelskette Tschitaj-Gorod ebenfalls einen Verkaufsanstieg von 20 Prozent.
Auch den Titel des britischen Historikers Nicholas Stargardt "Der deutsche Krieg: Zwischen Angst, Zweifel und Durchhaltewillen" wollten plötzlich viele lesen. Im Buch schildert Stargardt, wie die Deutschen den Zweiten Weltkrieg erlebten. In den zwei Wochen, nachdem im Herbst die Teilmobilmachung angekündigt wurde, wuchs die Nachfrage nach diesem Titel in Russland um ganze 405 Prozent. Da der 800-Seiten-Wälzer nur in einer Auflage von 4.000 Stück gedruckt wurde, ist er bei vielen Händlern derzeit vergriffen.
Deprimierende Bücher für deprimierende Zeiten?
In einer Zeit von Angst und Trauer scheint es auf den ersten Blick nicht gerade naheliegend, Bücher über Nazi-Deutschland, den Zweiten Weltkrieg und Konzentrationslager zu lesen. Für den russischen Literaturkritiker Nikolaj Aleksandrow ist das allerdings eine ganz natürliche Reaktion: "Menschen versuchen sich die Gegenwart zu erklären, indem sie in die Vergangenheit blicken. Krieg, Mobilisierung, Abschied – das alles verursacht einen Schock. Um zu verstehen, was das alles bedeutet, blickt der Mensch sowohl auf seine eigenen als auch auf historische Erfahrungen zurück. Er versucht, Parallelen in der Vergangenheit zu finden, die die Gegenwart erklären."
Der lesende Teil der russischen Bevölkerung sei meistens auch der denkende Teil, so Aleksandrow. Und dieser Teil der im Land verbliebenen Russen sei womöglich in einer schwierigeren Lage als die Ausgewanderten. "Sie sind zutiefst frustriert, weil sie das Gefühl haben, sich in einem fremden Land wiedergefunden zu haben." Daher sei das Interesse für Bücher wie das von Viktor Frankl nachvollziehbar, denn sie würden psychologische Unterstützung bieten und zeigen, wie man schwere Lebenssituationen meistern kann. Heitere und zuversichtliche Bücher erinnerten dagegen an eine Zeit, die nicht mehr da sei, so Literaturwissenschaftler Alexandrow weiter. "Das ruft eher Nostalgie hervor."
Doch nicht alle zieht es bei der Suche nach Erklärungen zu Büchern über den Nationalsozialismus und den Holocaust. Der 30-jährige Deutschlehrer Maxim findet Vergleiche mit Nazi-Deutschland sogar unangebracht. Und auch er suchte sich schwere Lektüre: "Ich habe Bücher gesucht, die mich nicht ablenken, sondern runterziehen. So habe ich mich mit den Ereignissen emotional im Einklang gefühlt."
Am meisten haben ihn Artikel des "Vaters der russischen Wasserstoffbombe" und Menschenrechtlers Andrej Sacharow aus den 1970er Jahren beeindruckt. "Ich war erstaunt über die Parallele, die man zum heutigen Russland ziehen kann. Sacharow hat schon damals auf den Imperium-Komplex der Sowjetunion und die daraus folgenden Probleme hingewiesen." Danach habe Maxim die "Erzählungen aus Kolyma" des sowjetischen Schriftstellers Warlam Schalamow gelesen, in denen dieser die Jahre seiner Lagerhaft im Gulag beschreibt. "Diese zwei Autoren haben mir geholfen, mich mental auf die aktuelle Situation einzustellen."
Wenn die Zukunft abhanden kommt
Ob sich Menschen aus Russland im Kriegsgebiet aufhielten oder nicht, die Psychotherapeutin Viktoria Dubinskaja spricht in beiden Fällen davon, dass Angst und Unsicherheit sie traumatisieren könnten. Dadurch würden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft voneinander entkoppelt. "Das ist unangenehm, Menschen wollen an etwas anknüpfen. Wir alle wollen Pläne schmieden und sehen, wohin wir uns bewegen," sagte sie dem Magazin "Psychologies". Auch Dubinskaja betont, dass viele Menschen in Russland bei Autoren wie dem KZ-Überlebenden Viktor Frankl wertvolle Hinweise finden würden. Schließlich habe Frankl sie unter unmenschlichen Bedingungen selbst angewandt und den Holocaust überlebt.
Auch die 25-jährige Kristina hat sich ein Exemplar von Frankls Buch bestellt und kann dem nur zustimmen. "In den ersten Kriegstagen hatte ich das Gefühl, dass das Leben vorbei ist. Es gab keine Zukunft mehr. Ein schreckliches Gefühl." Damals habe sie keine aufmunternden Selbsthilfe-Bücher gewollt, sondern etwas Tiefsinnigeres. "Ich wusste, dass es ein Buch von einem Psychologen gab, der die Konzentrationslager überlebt hatte. Wenn er nach all diesen Schrecken 'Ja' zum Leben sagen wollte, dann wusste ich – dieser Mann hat die Antworten, die ich in den dunkelsten Stunden brauche."
MDR (usc)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 26. November 2022 | 07:15 Uhr