Heiratsboom Warum in Russland plötzlich so viel geheiratet wird
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12. November 2022, 12:08 Uhr
In Russland wird seit Wochen im Stundentakt geheiratet. Nicht selten arbeiten Standesbeamte sieben Tage die Woche. Begonnen hatte der Heiratsboom, nachdem Präsident Putin im September die Teilmobilmachung befohlen hatte.
Als Wassilij Timofejew seinen Einberufungsbescheid für den Krieg in der Ukraine in den Händen hielt, dachte er, dass er möglicherweise schon bald sterben könnte. Also entschloss sich der 35-jährige Russe zu einer ungewöhnlichen Aktion. Während er bereits in einem Übungszentrum bei Omsk einquartiert wurde, veröffentlichte er im sozialen Netzwerk VKontakte, einer Art russischem Facebook, eine Hochzeitsanzeige. Sie richtete sich an die Frauen seiner Heimatstadt Belowo in Südsibirien. "Die Sonderoperation ist eine gefährliche Mission und so Gott will kehre ich zurück. Falls jedoch nicht, will ich nicht, dass die Entschädigungszahlungen an den Staat oder an irgendwelche Stiftungen gehen. Stattdessen will ich das Leben einer Landsfrau verändern", heißt es in dem Text. Wer also an einer Hochzeit interessiert sei, solle sich melden.
Die Anzeige sorgte für Aufsehen in ganz Russland. Die einen freuten sich über Timofejews scheinbar edle Absichten. Andere wiederum kritisierten sein Vorhaben als Betrug und Fake-Hochzeit. Der Russe ließ sich jedoch von Kritik nicht beirren. Im Übungszentrum habe er ein Formular ausgefüllt und sollte dort Verwandte eintragen für den Fall einer Versicherungszahlung. Diese beträgt bei Tod eines Soldaten umgerechnet bis zu 200.000 Euro. Eine astronomische Summe, insbesondere für die sibirische Provinz. "Ich wollte, dass sich jemand mit guten Gedanken an mich erinnert im Fall der Fälle", begründet Timofejew seine Idee.
Wie der Krieg die russische Bürokratie beschleunigt
Tatsächlich ist Timofejew nur einer von Tausenden Russen und Russinnen, die sich nun plötzlich familiär binden wollen. Denn seit Russlands Präsident Wladimir Putin die Teilmobilmachung im September ausgerufen hat, erlebt Russland einen Hochzeitsboom.
Die Standesämter in zahlreichen Regionen arbeiten seit Wochen auf Hochtouren. Gewöhnlich vergeht in Russland zwischen der Anmeldung beim Standesamt und dem eigentlichen Hochzeitstermin eine Wartezeit von mindestens vier Wochen. Gleichwohl gilt die Mobilmachung als Ausnahmesituation, die eine Beschleunigung des bürokratischen Vorgangs auf nur wenige Tage erlaubt.
Die Teilmobilmachung hat auch Anna M. aus der Millionenstadt Jekaterinburg umdenken lassen. Mit ihrem Freund ist sie seit acht Jahren zusammen, die Ehe sei für sie nie in Betracht gekommen, da "Liebe und Respekt auch ohne Urkunde" möglich seien. Doch nach der Bekanntgabe des Kremlchefs hätten sie umgehend ihre Hochzeit angemeldet. "Mein Freund war schon immer dafür gewesen. Nun hat es aber auch bei mir Klick gemacht", sagt die Russin. "Wenn er eingezogen wird, dann wäre er ohne Ehestempel offiziell einfach ein Fremder. Ich hätte nicht einmal das Recht, zu erfahren, wo er ist und ob es ihm gut geht", sagt die Russin.
Viele Standesämter in Russland arbeiten auf Hochtouren
Regionale Statistiken von Standesämtern belegen den Hochzeitsboom. So meldete etwa das Standesamt der Region Amur an der Grenze zu China, dass die Beamten keine freie Tage haben und mit Überstunden arbeiten. Insgesamt seien in den ersten drei Tagen nach der Mobilmachung 682 Ehen geschlossen worden, so viele wie im gesamten August. In der Region Jekaterinburg ist die wöchentliche Zahl von Eheschließungen seit der Teilmobilisierung von 700 auf 1.125 gestiegen. Die Region Kuzbass in Sibirien meldete im dritten Quartal einen Anstieg der Eheschließungen um 20 Prozent zum Vergleichsquartal des Vorjahres.
Trauschein: Auch für russische Emigranten wertvoll
Ein weiterer Faktor, der russischen Paaren den letzten Anstoß zum Heiraten gibt, ist die wachsende Emigrationswelle in Russland. Schon im Februar, kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine, hatten sich Hunderttausende Russen und Russinnen ins Ausland abgesetzt. Im September kamen noch einmal mehrere Hunderttausend hinzu. Für Mark B. aus Sankt Petersburg war es ein einschneidendes Erlebnis, als viele Freunde im Februar die Heimat verließen. "Meine Freundin und ich hatten uns damals überlegt, ob wir Auswandern sollten, und dass es als Ehepaar allein schon bürokratisch leichter ist, in einem fremden Land Fuß zu fassen", meint der Russe. So zahlen etwa Arbeitgeber Umzugshilfe für Familienmitglieder von Angestellten. Andere Länder gewähren das Recht auf Nachzug nur für Ehepartner, sollte nur einer der beiden einen Job in diesem Land annehmen. Mittlerweile hat Mark seine Freundin Anastasia geheiratet. Im September verließ er Russland endgültig Richtung Georgien und wartet nun, dass seine Frau nachkommt.
Anzeige bei VKontakte führt zu Happy End
Auch Wassili Timofejew aus Belowo hat mit seiner Anzeige eine potenzielle Ehefrau gefunden. Auf seine Anzeige hätten sich Dutzende Frauen gemeldet, doch hätten es viele gar nicht ernst gemeint mit einer Heirat. "Die zehnte Nummer, unter der ich zurückrief, gehörte Nadeschda. Sie stammt aus meiner Heimatstadt und lebt allein mit drei Kindern", sagt Wassili. Nadeschdas Mann hat früher als Bergmann gearbeitet, in der gleichen Grube, in der auch Wassili früher Geld verdiente. Bei einem Unfall im Bergwerk "Listwjaschnaja" kam Nadeschdas Ehemann ums Leben. Timofejew sagt über sie: "Sie ist eine gute Frau, aber ich habe sie nicht als Partnerin gesucht, sondern als einen Menschen, dem ich vielleicht helfen kann."
Teilmobilmachung Im September hat Kremlchef Wladimir Putin eine Teilmobilmachung der eigenen Streitkräfte angeordnet. Das Verteidigungsministerium sprach von 300.000 Reservisten, die für den Ukraine-Krieg eingezogen werden sollen. Wenig später berichteten Medien, dass auch Ungediente, Alte und Kranke einen Einberufungsbescheid erhalten hatten.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 09. November 2022 | 19:10 Uhr