EU-Visa für Russen Russische Oppositionelle: Visa-Verbot würde Putin in die Hände spielen
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18. August 2022, 16:19 Uhr
Während in der EU eine Diskussion um einen Visa-Stopp für russische Touristen Fahrt aufnimmt, zeigen sich vor allem russische Oppositionelle besorgt. Eine Flucht in die EU könnte bald unmöglich werden.
Wenn Pawel Tschuprunow von seiner Flucht aus Russland erzählt, wird klar, dass er einst großes Glück gehabt hat. Über Jahre hinweg hat er sich in seiner Heimatstadt Sankt Petersburg einen Namen als politischer Aktivist gemacht, kämpfte für freie Wahlen, wenigstens auf lokaler Ebene. Der Kreml-Partei Einiges Russland war Tschuprunow deshalb ein Dorn im Auge. Richtig gefährlich wurde es für ihn jedoch erst nach einer Festnahme 2021.
"Ich wurde auf einer Demo für Nawalnys Freilassung festgenommen, die Polizei wollte mich wegen angeblichem Widerstand gegen Beamte einsperren lassen", erinnert sich der Russe. Weil die Polizeistation an dem Abend mit Festgenommenen überfüllt war, gelang Tschuprunow unbemerkt die Flucht. Zu Hause packte er schnell eine Tasche und fuhr mit einer Mitfahrgelegenheit nach Moskau und später ins belarussische Minsk. Dort stieg er in den Flieger nach Stockholm. Sein Glück: Seit einigen Monaten hatte er ein Touristen-Visum für Schweden im Pass. So konnte er ausreisen. Die russischen Behörden bekamen von seiner Flucht nichts mit.
Wenn der Russe aus seinem sicheren Exil in Stockholm die aufgeflammte Diskussion um das Visa-Verbot für Russlands Staatsbürger verfolgt, muss er an seine eigene Rettung denken. "Hätte ich damals kein Touristenvisum für Schweden gehabt, hätte ich wohl auch nicht ausreisen können und wäre wohl im Knast gelandet", sagt Tschuprunow heute. Umso größer ist seine Sorge darüber, dass sich zuletzt immer mehr europäische Staaten auf höchster Ebene dafür ausgesprochen haben, die Vergabe von so genannten Touristen-Visa für Russen einzuschränken. Als eine der ersten meldete sich die finnische Premier-Ministerin Sanna Marin zu Wort. Es sei nicht richtig, dass Russen Urlaub in Europa machen können, während Russland einen brutalen Angriffskrieg führe. Auch die estnische Regierungschefin Kaja Kallas pflichtete ihr bei. EU-Reisen seien kein Menschenrecht, sondern ein Privileg, schrieb sie auf Twitter. Am Sonntag bekräftige auch Polens Vize-Außenminister Piotr Vavzyk seine Unterstützung für einen Visa-Stopp für Russen.
Auch aus Kiew bekam die Idee Beifall. Präsident Wolodymyr Selenskyj begründete seine Zustimmung damit, dass die meisten Russen einen Krieg gegen sein Land unterstützten oder schweigend hinnehmen würden. Selensykyjs Berater Mihajlo Podoljak hoffte gar darauf, dass ein Visum-Verbot für Unmut unter den Russen sorgen könnte, die sich am Ende gegen Putin richten werde.
Russische Oppositionelle wegen Visa-Stopp besorgt
Vor allem unter Kremlkritikern und russischen Oppositionellen haben diese Bestrebungen große Besorgnis ausgelöst. Kritik kam von Nawalnys Stabschef Leonid Wolkow, der sich derzeit in Estland aufhält. "Dies wirkt eher wie der Versuch europäischer Politiker, ihren Wählern einfache und effektive Maßnahmen zu präsentieren, was sie jedoch nicht sind", schrieb Wolkow auf Facebook. Auf Unverständnis stieß auch die Einstufung der EU-Reisen als Privileg. "Diese Formulierung lässt mich ein wenig verwirrt zurück, denn sie läuft entgegen dem Verständnis von internationalem Recht", kommentierte der russische Historiker und Schriftsteller Alexander Etkind.
Auch nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Ilja Matwejew, der Russland nach Kriegsbeginn den Rücken gekehrt hat, würde ein Visa-Stopp für Russen bedeuten, dass viele nun der Möglichkeit auf Zuflucht in Europa beraubt würden. Wer aus Russland Richtung EU ausreisen möchte, braucht ein gültiges Visum. Menschen ohne Visum würden russische Grenzbeamte an der Grenze zurückweisen. Humanitäre Visa für gefährdete Personen müssen dagegen erst beantragt werden, so dass eine schnelle Flucht mit einem Verbot von Touristen-Visa kaum noch möglich wäre. "Darüber hinaus trifft ein Visa-Verbot viele kremlnahe Personen nicht, die bereits über EU-Papiere oder eine Aufenthaltserlaubnis verfügen", kritisiert Matwejew, der seinen Aufenthaltsort aus Sicherheitsgründen nicht nennt.
Tatsächlich haben seit Beginn des Krieges tausende Russen das Land aus Angst vor politischer Verfolgung und aus Protest gegen den Angriff verlassen. Hunderte Journalisten und Aktivisten, aber auch Kulturschaffende, IT-Spezialisten und einfache russeische Bürger haben sich nun in Europa niedergelassen. Die meisten von ihnen haben sich erst nach ihrer Ankunft um einen längerfristigen Aufenthaltstitel oder einen Flüchtlingsstatus bemüht und reisten mit einem kurzfristigen Besuchervisum ins Land. Gleichzeitig ist die Ausreise aus Russland derzeit ohnehin erschwert. Seit Anfang März gibt es zwischen Russland und der EU keine Direktflüge mehr. Bis Juli galt zudem ein von der russischen Regierung zu Beginn der Corona-Pandemie verhängtes Ausreiseverbot aus Russland über den Landweg, zum Beispiel mit dem Auto.
Manche Oppositionelle befürworten Visa-Verbot
Doch längst nicht alle Putin-Kritiker halten ein mögliches Visa-Verbot für problematisch. "Ich denke nur solche Schritte können die Menschen dazu bewegen endlich zu handeln, statt sich endlosen Reflexionen hinzugeben", schrieb etwa Ilja Ponomarjow, Ex-Abgeordneter der Duma-Partei Gerechtes Russland. Er selbst befinde sich derzeit in der ukrainischen Hauptstadt Kiew und kämpfe dort aktiv gegen Putin. Auch der Historiker und prominente politische Aktivist Kamil Galejew, der nach einer Festnahme auf einer Pro-Nawalny-Demonstration in die USA ausgewandert ist, hält ein Visa-Verbot für wirksam. "Je länger in Russland Normalität herrscht, desto mehr Russen glauben, dass Putin Recht behält", meint Galejew. Ein Einreise-Verbot würde diese Normalität stören und den Bürgern Russlands zeigen, dass Europa die Kriegshandlungen nicht hinnimmt. "Russlands öffentliche Meinung wird nicht durch Bilder von Toten beeinflusst, sondern von Einbußen beim persönlichen Komfort, dessen Niveau direkt mit der Zustimmung für Putins Regime korreliert", argumentiert Galejew. Nur mit solchen kleinen Schritten lasse sich in Russland etwas bewegen.
Der russische Aktivist Pawel Tschuprunow in Stockholm hat Verständnis für solche Argumente, kann sich ihnen allerdings nicht anschließen. In Schweden hat er sich mit anderen Landsleuten zusammengetan und den Verein "Russen gegen den Krieg" gegründet. "Ich würde mir wünschen, dass Putin diesen Krieg verliert und verstehe auch die Sorgen der Ukrainer, Esten und Finnen. Trotzdem halte ich ein generelles Visa-Verbot für Russen für diskriminierend." Für Putin wäre ein EU-Verbot von Touristen-Visa weitere Möglichkeit die wenigen Andersdenkenden im Land ruhig zu stellen.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 15. August 2022 | 15:23 Uhr