Rechtsstaatlichkeit Russland: Der Staat ist Euch nichts schuldig!
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16. März 2020, 18:14 Uhr
Die Ansicht, über dem Gesetz und den Bürgern zu stehen, vertreten in Russland nicht nur Polizisten, sondern auch Beamte, Abgeordnete und Gouverneure. Sehr oft müssen russische Bürger Beleidigungen von Staatsdienern über sich ergehen lassen. Ein Gesetz soll Abhilfe schaffen. Aber das lässt auf sich warten.
Im Moskauer Stadtbezirk Krasnoselski parkt ein Polizist seinen privaten BMW auf dem Gehweg vor einem Supermarkt. Zufällig läuft ein Abgeordneter des Stadtteilparlaments vorbei und beobachtet die Szene. Der Abgeordnete ist der Politiker Ilja Jaschin, der bei den letzten Kommunalwahlen als einer der wenigen Oppositionellen ins Parlament gewählt wurde. Um das gesetzeswidrige Verhalten des Gesetzeshüters festzuhalten, holt Jaschin sein Telefon aus der Tasche und beginnt die Szenerie zu filmen. Das scheint dem Polizisten nun gar nicht zu gefallen. Er verbirgt sein Gesicht, während er versucht, rückwärts vom Gehweg zu fahren. Dabei rammt er ein anderes Fahrzeug. Kollegen des Polizisten, die zum Unfallort gerufen werden, beschuldigen den Abgeordneten, den Unfall durch die Handyaufnahmen provoziert zu haben. Auf die Erwiderung Jaschins, er würde nur seiner Aufgabe als Abgeordneter nachkommen und die Arbeit der Gesetzeshüter kontrollieren, bekommt er von einem der Polizisten zu hören: "Sie kontrollieren uns nicht. Glauben Sie mir."
Hüpfender Feuerwehrmann
Die Ansicht, über dem Gesetz und den Bürgern zu stehen, vertreten in Russland nicht nur Polizisten, sondern oft auch Beamte, Abgeordnete und sogar Chefs ganzer Regionen. So hat Ende Januar 2020 Michail Ignatjew, damals Gouverneur der Republik Tschuwaschien, landesweit traurige Berühmtheit erlangt, als er bei der Übergabe neuer Fahrzeuge an die Feuerwehr einen Feuerwehrmann nach den Fahrzeugschlüsseln hat hüpfen lassen. Kurz vorher hatte Ignatjew dazu aufgerufen, Journalisten und Blogger, die kritisch über die Regierung berichten, "fertigzumachen".
Kinder sind Sache der Eltern
Ein Jahr zuvor hat Olga Glazkich, damals Leiterin der Abteilung Jugendpolitik in der Region Swerdlowsk, auf die Frage einer Stadtbewohnerin nach der Finanzierung von Kinderprojekten geantwortet, dass sich der Staat grundsätzlich nicht um Kinder kümmere. Dies sei ausschließlich Sache der Eltern und diese sollten ihre Probleme gefälligst selbst lösen. "Der Staat hat Euch schließlich nicht darum gebeten, Kinder zu kriegen", schloss sie ihre Antwort.
Kein Gesetz gegen pöbelnde Beamte
Nachdem das Video mit dem hüpfenden Feuerwehrmann die Runde in den sozialen Netzwerken gemacht hatte, wurde Michail Ignatjew aus der Partei "Einiges Russland" ausgeschlossen und von Präsident Putin auch noch höchstselbst aus dem Amt geworfen. Auch Olga Glazkich hat mittlerweile ihre Anstellung verloren. Dieses entschlossene Vorgehen der Verantwortlichen ist nach zahlreichen ähnlichen Fällen in jüngster Vergangenheit durchaus angebracht. Immer öfter sind überdies Stimmen zu hören, die juristische Strafen und Bußgelder fordern, wenn Politiker oder Beamte Bürger beleidigen oder respektlos mit ihnen umgehen. Äquivalent zu einem Gesetz, das die "Beleidigung eines staatlichen Amtsträgers" unter Strafe stellt. Es ist am 1. April 2019 in Kraft getreten. Allein im ersten Halbjahr nach Inkrafttreten des Gesetzes sind 45 Bußgeldverfahren initiiert worden. Mehr als die Hälfte gegen Bürger, die Wladimir Putin beleidigt haben sollen.
Doch Initiativen, ein entsprechendes Gesetz auch für Staatsbeamte einzuführen, trugen bislang keine Früchte. Ein erster Gesetzentwurf ist im Mai 2019 von der gesetzgebenden Kommission der Regierung abgelehnt worden. Ein zweiter Versuch der gesetzlichen Regelung des Problems ist vergangenen September eingebracht worden, soll aber noch entscheidend nachgebessert werden.
"Eine Frage der menschlichen Kultur"
Im Dezember 2019 sprach sich Wladimir Putin dafür aus, Beamte zu bestrafen, die Bürger beleidigen. Die Idee ist von der Vorsitzenden des Föderationsrats der Oberen Parlamentskammer Walentina Matwijenko umgehend aufgegriffen worden. Jedoch würde sie sich damit begnügen, Beamte und Politiker in solchen Fällen zu entlassen, strafrechtliche Verfolgung hält sie dagegen nicht für angebracht. "Das ist eine Frage der menschlichen Kultur", sagte Walentina Matwijenko. "Wenn sie da ist, ist sie da. Wenn nicht, dann bringt auch ein Gesetz nichts."
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 19. Februar 2020 | 19:30 Uhr