Energiekrise Kahlschlag in den Wäldern: Ungarns Antwort auf die Gaskrise
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05. September 2022, 19:41 Uhr
Russland dreht Europa den Gashahn zu – auch die Ungarn haben deshalb Angst, im Winter zu frieren, obwohl ihr Land als Moskaus Verbündeter in der EU gilt. Die Regierung in Budapest glaubt nun, guten Ersatz für russisches Gas gefunden zu haben: Holz. Damit sollen die Menschen im Winter heizen. Doch die Sache hat einen Haken: Riesige Waldflächen müssen dafür dranglauben – auch in Naturschutzgebieten.
Ein Brief sorgte in Ungarn im August für Schlagzeilen: Die Schulämter sollten prüfen, ob Schulgebäude notfalls auch mit Holz beheizt werden könnten, wies das Innenministerium in dem Schreiben an. Voraussetzung dafür seien geeignete Öfen und sichere Abluftkamine. Und natürlich Brennholz - doch das könnte in diesem Jahr zur Mangelware werden, denn auch viele Privathaushalte liebäugeln mit der Idee. Auch deshalb, weil die Regierung die 2013 eingeführte Heiz- und Stromkostenbremse für Privatkunden aufgeweicht hat. Seit dem 1. August gelten die staatlich subventionierten Strom- und Gaspreise nur noch bis zur Höhe des Durchschnittsverbrauchs. Darüber hinaus müssen Verbraucher den Weltmarktpreis zahlen.
Ungarns Rezept gegen Gasmangel: Brennholz
Um den steigenden Holzbedarf zu sichern, hat die Regierung eine Verordnung erlassen, die einen nahezu uneingeschränkten Holzeinschlag in den ungarischen Wäldern erlaubt. Die Natur hat das Nachsehen. Die wichtigsten Einschränkungen zum Schutz der Wälder sind aufgehoben, die Holzfäller müssen keine Rücksicht auf die Brutzeit der Vögel und die Vegetationszeit mehr nehmen. Selbst in Waldschutzgebieten darf der Kahlschlag stattfinden. Möglich wurden diese weitgehenden Einschnitte in den Naturschutz, weil die Regierung wegen des Ukraine-Krieges einen Notstand ausgerufen hat. Damit kann sie (ähnlich wie während der Corona-Pandemie) mit Verordnungen Gesetze verändern – darunter das Natur- und das Waldschutzgesetz.
Dagegen protestieren nicht nur Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace Ungarn und WWF Ungarn, sondern auch die Ungarische Akademie der Wissenschaften. "Die Verordnung gefährdet die langfristige Erhaltung ökologisch wertvoller heimischer alter Waldbestände in Waldschutzgebieten", schrieben Fachleute von der Wissenschaftsakademie in einer Stellungnahme. Neben Lebewesen und der Biodiversität werde auch die Klima-, Wasser- und Bodenschutzfunktion der Wälder sowie ihre Anpassungsfähigkeit an den Klimawandel gefährdet. Dabei könnte der erhöhte Brennholzbedarf den Wissenschaftlern zufolge durch eine intensivere Nutzung von Waldgebieten gedeckt werden, die nicht unter Naturschutz stehen, etwa der in Ungarn verbreiteten Akazienwälder.
Proteste gegen Kahlschag in den Wäldern
Umweltschützer stellen außerdem in Frage, ob das kurzfristige Hochfahren der Brennholzproduktion das Heizproblem überhaupt lösen kann. Frisch gefälltes Holz sei als effektives Heizmaterial ungeeignet, betont die "Arbeitsgruppe Luft" (Levegő Munkacsoport): "Der Feuchtigkeitsgehalt von gutem Brennholz liegt unter 20 Prozent, besser noch im Bereich von 10-15 Prozent. Im Gegensatz dazu enthält frisch gefälltes Holz 40-50 Prozent Wasser und wenn es verbrannt wird, absorbiert die Verdunstung von Wasser einen wesentlichen Teil der darin enthaltenen Energie." Die Organisation hat eine Warnung an die Verbraucher ausgesprochen und rät dringend davon ab, für die kommende Heizsaison Holz zu kaufen, dessen Feuchtigkeitsgehalt über 20 Prozent liegt.
Und in der Tat scheint zumindest ein Teil der Ungarn skeptisch zu sein. In einer frisch veröffentlichten Umfrage von Greenpeace Ungarn waren 63 Prozent der Befragten gegen die Lockerung der Waldschutzregelungen. Nur 22 Prozent waren der Meinung, dass die Maßnahme geeignet ist, Energieversorgungsprobleme zu lösen. Mitte August gingen einige Tausend Menschen zwei Mal gegen die Neuregelung in Budapest auf die Straße.
Der Protest hat die Regierung offenbar ein wenig in die Defensive gedrängt. Landwirtschaftsminister István Nagy hat die Kritik an der Verordnung erst zwar zurückgewiesen, doch später in einem ministeriellen Erlass unter die Abholzung in Waldschutzgebieten und während der Vegetationsperiode verboten – ein Schritt, der von Umweltschützern und Oppositionspolitikern als Zeichen der Einsicht begrüßt wurde. Allerdings kann eine Verordnung der Regierung nicht per Ministerialerlass außer Kraft gesetzt werden. Und abgesehen davon gilt der Erlass des Landwirtschaftsministers ohnehin nur für die Wälder im Staatsbesitz – also für 56 Prozent der Wälder in Ungarn. Daher bleiben Umweltschutzorganisationen bei ihrer Kritik des Vorhabens und fordern die völlige Aufhebung der Brennholzverordnung.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 14. Juli 2022 | 14:45 Uhr