Ukraine-Krieg Heldenkult: Darum wird Boris Johnson in der Ukraine verehrt
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08. September 2022, 17:57 Uhr
Johnson-Croissants, T-Shirts mit Johnsons Konterfei und nach ihm benannte Straßen: Der scheidende britische Premier ist in der Ukraine ein wahrer Volksheld. Seinen Rücktritt bedauern die Ukrainer mehr als Rücktritte der eigenen Politiker. Der Grund: Seine enorme Unterstützung im Kampf gegen den russischen Angriffskrieg. Dass sich der Ukraine-Kurs der britischen Regierung nach seinem Abgang ändern könnte, befürchten die Menschen allerdings nicht.
Als Johnson im Juli seinen Rücktritt verkündete, rollte in der Ukraine eine Welle trauriger Postings durch die sozialen Medien. Durch die bedeutende militärische Hilfe Großbritanniens, aber auch, weil er sich traute, Anfang April nach Kiew zu reisen, nur wenige Tage nachdem die russischen Truppen die nordwestlichen Vororte der Hauptstadt verlassen hatten, ist er in der Ukraine zum beliebtesten Auslandspolitiker und zu einer Kultfigur geworden. Die Ukrainer nennen ihn sogar scherzhaft Johnsonjuk – die ukrainische Endung soll ausdrücken, er ist einer von uns.
Personenkult um Boris Johnson
Im Unterschied zu anderen westlichen Politikern gilt Johnson in der Ukraine als ein Mann der Tat. "Macron ist das klassische Beispiel eines Mannes, der viel verspricht und dann nichts macht. Johnson ist ein Mann der Tat. Sei wie Johnson, nicht wie Macron", haben viele Ukrainerinnen im April gescherzt. Johnsons Worte "Dobryj den, everybody" ("Guten Tag allerseits"), die beim Gespräch mit den Menschenmassen in Kiew fielen, wurden sogar in zwei beliebten Songs aufgegriffen, die auf YouTube inzwischen fast sieben Millionen Zugriffe erreicht haben.
In mehreren Städten, zum Beispiel in Wassylkiw bei Kiew, wurden Straßen nach dem ehemaligen britischen Premier benannt. Einige Fastfood-Ketten werben außerdem mit Johnsons Gesicht, und in einem Hipster-Café im Kiewer Bezirk Podil wird ein Boris-Johnsonjuk-Croissant verkauft, das die britische Botschafterin Melinda Simmons höchstpersönlich kostete.
Ein Verkaufsschlager sind auch T-Shirts mit Johnsons Porträt. "Die Nachfrage ist groß", bestätigt die Verkäuferin in einem Kiewer Geschäft und zeigt ein Modell, dass in London persönlich an Johnson übergegeben wurde. "Zwar war der Höhepunkt der Verkäufe im Juli, als sein Rücktritt bekannt wurde, sie werden aber immer noch gern gekauft."
Der vorläufige Höhepunkt der Johnson-Verehrung ist eine Ehrentafel mit seinem Namen in der sogenannten "Allee der Mutigen". Eingeweiht wurde die, als Johnson am 24. August Kiew am Unabhängikektstag zum dritten Mal seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine besuchte. Passend zu dieser Ehre nennt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Johnson stets einen "großen Freund der Ukraine".
Johnson überholt polnischen Präsidenten
Doch woher kommt diese enorme Beliebtheit Boris Johnsons? "Wir sind ein emotionales Volk, viel emotionaler als die Deutschen. Und der Krieg macht die Menschen noch emotionaler als sonst", erläutert Wolodymyr Fessenko, Politologe und Chef des Zentrums für Angewandte Politische Forschung Penta. "Johnson hat eben die emotionalen Erwartungen der Ukrainer erfüllt. Der US-Präsident Biden ist zum Beispiel viel zurückhaltender und auch älter, und Johnson mit seinem charismatischen Auftreten und sehr deutlichen Aussagen gefällt den Menschen hier besser. Es gibt außerdem noch den polnischen Präsidenten Duda, und Polen hilft gemessen an seinen geringeren Möglichkeiten militärisch auch sehr viel. Aber auch Duda ist ziemlich zurückhaltend. So kommt es dazu, dass viele Ukrainer zu Johnson-Fans wurden."
Denn auch Polens Präsident Andrzej Duda zählte zu den ersten hochrangigen Politikern aus dem Westen, die die Ukraine nach Ausbruch des Krieges und zu einem noch relativ gefährlichen Zeitpunkt besuchten. Eine Zeit lang genoss er deshalb ebenfalls Kultstatus – man scherzte, die Ukrainer würden ihn zum Präsidenten wählen, wenn er sich nur aufstellen lassen könnte. "Was Polen betrifft, schauen die Ukrainer auf die Hilfsleistung des ganzen Landes, man ist nicht auf Duda allein konzentriert. Außerdem hat man von Polen diese enorme Hilfe, für die man sehr dankbar ist, erwartet – die Sache mit Johnson und Großbritannien kam dagegen viel überraschender. Das spielt auch eine Rolle", erklärt Petro Oleschtschuk, Politikwissenschaftler an der Kiewer Schewtschenko-Universität.
Ukrainer bedauern Johnsons Rücktritt
Laut Oleschtschuk haben die Ukrainer den Rücktritt Johnsons mehr bedauert als den Rücktritt jedes ukrainischen Politikers. "Der Johnson-Kult ist natürlich weniger rational als emotional. Die Ukrainer lieben die Rauheit, wenn etwas zwar nicht perfekt ist, aber aus der Seele kommt. Sie haben nicht das Gefühl, dass Johnsons Position zur Ukraine nur PR war, das kam schon von Herzen."
Aus ukrainischer Sicht sei es völlig egal, ob Johnson die Ukraine für PR-Zwecke nutzte, ergänzt Politologe Fessenko: "Moderne Politik existiert nicht ohne PR. Aber natürlich hat Johnson seine innenpolitischen Probleme durch das Engagement für unser Land kompensiert". Johnson habe in der Ukraine eine Welle von Sympathie erfahren, die es in Großbritannien für ihn nicht gab. Die Ukrainer befürchten allerdings nicht, dass Johnsons Nachfolgerin Liz Truss die britische Ukraine-Linie allzu sehr ändern wird.
"Unter Truss wird es vielleicht weniger spektakulär aussehen, aber die Politik wird sich sicher nicht ändern", meint Fessenko. "Ich sehe da keine großen Veränderungen am Horizont", glaubt auch Oleschtschuk und fügt hinzu: "Vermutlich wird sie aber eben wie Duda und nicht wie Johnson wahrgenommen. Johnson wird aber in den Herzen der Ukrainer als großer Freund des Landes bleiben. Er wird hier immer willkommen sein – in welcher zukünftigen Rolle auch immer."
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR aktuell | 05. September 2022 | 17:45 Uhr