Stimmungsbild aus Minsk Belarus: Verdienen an den Migranten
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20. November 2021, 06:06 Uhr
Einige Ecken in Minsk sind derzeit fest in Migrantenhand. Nicht nur der Staat und zwielichtige Reiseveranstalter verdienen an ihrem Traum vom Leben in der EU – auch örtliche Hotels, Taxifahrer und Fastfoodlokale profitieren von ihnen. Gleichzeitig beklagt man im Staatsfernsehen ihr bitteres Schicksal und gibt Polen die ganze Schuld an der gegenwärtigen Migrationskrise. Belarus wird als Land dargestellt, das die helfende Hand ausstreckt. Doch die Bevölkerung nimmt nicht alles für bare Münze – und die Sammlungen für Hilfsaktionen, die die staatlichen Medien so gerne thematisieren, sind umstritten. Ein Stimmungsbild aus Minsk von unserem Kollegen Kastus Januschkevic.
Das beliebte Einkaufszentrum "Galleria Minsk" ist seit Wochen voll. Aber nicht mit einheimischen Kunden, sondern mit "Touristen" aus dem Nahen Osten – so nennt die belarusische Regierung die Migranten, die sich in Belarus legal mit einem Touristenvisum aufhalten.
Im fünften Stock, wo sich der Gastronomie-Bereich befindet, bilden die Männer – die meisten von ihnen stammen aus dem Irak – mehrere Schlangen an den Bestellautomaten von KFC und Burger King. Andere Cafés stehen leer. Die junge Verkäuferin am Eisstand versucht auf Englisch mit dem jungen Mann zu kommunizieren, der die vielen Geschmacksrichtungen mit Interesse anschaut. Doch er zeigt mit dem Finger nur aufs Ohr, zuckt mit den Achseln und geht weg – die meisten Migranten sind Kurden und sprechen kaum Englisch.
Minsk: Viele verdienen an den Migranten mit
Der Gastro-Bereich wird alle zehn Minuten von der Security kontrolliert, und draußen vor dem Einkaufszentrum steht immer ein Polizeiauto. Von dem nahegelegenen Parkplatz fahren die Flüchtlinge mit ihren großen Wanderrucksäcken zur polnischen Grenze. Der Transfer kostet etwa 200 US-Dollar. Zuvor mussten sie schon bis zu 3.000 Euro für Flugticket und Visa bezahlen.
In Minsk mieten sie entweder Wohnungen oder wohnen in Hotels und Hostels. Sie machen aber klar, dass sie in Belarus nicht lange bleiben möchten. Ihr Ziel ist Deutschland. Für die Tourismusbranche sind die Migranten ein Segen. Wegen der Corona-Pandemie, aber auch aufgrund der politischen Lage, ist die Zahl der Übernachtungen 2020 gegenüber dem Vorjahr fast um die Hälfte zurückgegangen. Die "Touristen" aus dem Nahen Osten sind also nicht nur Lukaschenkos Erpressungsinstrument, sondern auch eine willkommene Einkommensquelle.
Migranten sind Streitthema in Belarus
Bis zum 8. November 2021, als die Migranten ein Camp an der Grenze bauten, war ihre Anwesenheit kaum ein Thema in der belarusischen Gesellschaft. Inzwischen wird darüber auf den Straßen, in Supermärkten und vor allem auf Facebook emotional gestritten. "Wieso habe ich seinerzeit brav ein polnisches Visum beantragt? Ich hätte doch auch einfach die Grenze stürmen können!" – empört sich ein Taxifahrer, der mich zum Einkaufszentrum mit den vielen Migranten fährt.
Nach belarusischen Gesetzen ist es zudem eigentlich verboten, sich direkt an der Grenze aufzuhalten, ganz zu schweigen von illegalen Abholzungen, der Zerstörung des Grenzzauns und den Steinewürfen gegen polnische Grenzschutzbeamte. Doch die Behörden und Staatsmedien in Belarus tun so, als würden sie all das nicht bemerken, und geben Polen die Schuld an der Eskalation der Lage.
Staatspropaganda gibt Polen die Schuld
Nach einer dieser Attacken stufen Ermittlungsbehörden das Verhalten der polnischen Sicherheitskräfte an der Grenze als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" ein. Doch die Menschen in Belarus nehmen das nicht für bare Münze und bezeichnen die Ermittler in den sozialen Medien massenhaft als "Clowns" – eine Reaktion auch darauf, dass sie die vielen Fälle von Polizeigewalt und Morde an Oppositionellen im eigenen Land nicht aufklären, sich aber nicht zu schade sind, Polen Menschenrechtsverletzungen vorzuwerfen.
Auch im Fernsehen vergießt eine Moderatorin Tränen darüber, wie böse Polen zu den armen Flüchtlingen sei und wie gut sie von der belarusischen Seite behandelt würden – dazu wird der Sturm auf die Grenze live übertragen. Dabei erzählen diejenigen Migranten, die in die EU durchgekommen sind, wie sie von belarusischen Soldaten verprügelt und gezwungen wurden, die Grenze zu stürmen.
Hilfsaktionen vor laufenden Kameras
Mittlerweile ist das Migrantenlager an der Grenze zu einer Art Pilgerstätte für alle möglichen Lukaschenko-Anhänger geworden. Sogar die Vorsteherin des Frauenklosters in Hrodna, Hauryla, ist dort mit einem großen Kreuz in der Hand aufgetaucht, mit dem sie die muslimischen Migranten segnete. Vor Ort werden auch Hilfsgüter verteilt, die von privaten Initiativen gesammelt wurden: Kleider, Medikamente und Spielzeug für die Kinder. Doch nicht jeder darf den Migranten helfen. Hilfsaktionen, die nicht von der Regierung initiiert wurden, werden oft unterbunden. So wollte eine Rentnerin aus einem Dorf an der Grenze ein paar Migranten zu sich nach Hause einladen, damit sie im Wald nicht (er)frieren – in der Nacht herrschen inzwischen Temperaturen von bis zu -2 °C. Doch die Frau wurde nicht in das Flüchtlingslager hineingelassen.
Nicht jeder in Belarus will spenden
Sammlungen für die Migranten sind in der demokratischen Opposition außerdem umstritten: Es gebe mehr als 800 politische Gefangene, Tausende Belarussen werden regelmäßig zu 15 Tagen Haft unter unmenschlichen Bedingungen verurteilt – ohne Dusche und Spaziergang, ohne Wechselkleidung und Hygieneartikel, ohne Kissen und Matratzen. Auch sie hätten Kinder, heißt es. Sollen wir nicht lieber ihnen helfen als Migranten, die das Regime für eigene Zwecke instrumentalisiert, fragen sich die Menschen.
Denn viele Belarussen, egal ob sie für oder gegen Hilfsaktionen sind, sind sicher: Die Flüchtlinge und Migranten sind nur Geiseln der politischen Ambitionen von Alexander Lukaschenko, der sich schon mehrmals öffentlich empörte: "Sanktionen? Wir schützen doch eure EU-Grenze vor illegaler Migration!"
Quelle: MDR Osteuroparedaktion
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 18. November 2021 | 17:45 Uhr