Kommentar Belarus-Grenze: Polen will keine EU-Hilfe
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12. November 2021, 14:16 Uhr
Polens Regierung hätte schon längst Hilfe von EU und NATO anfordern sollen. Doch sie tut es nicht, weil sie das Problem an der Grenze zu Belarus gar nicht lösen will. Innenpolitisch spielt ihr der Zustrom von Flüchtlingen und Migranten in die Hände – das lenkt von anderen Problemen ab, etwa der grassierenden Inflation, die viele Familien ins Schwitzen bringt. Doch nun rächt sich das Abwarten, denn die Lage läuft aus dem Ruder.
Im Dreck der Wälder und Sümpfe an der polnisch-belarussischen Grenze sterben Menschen. Bislang waren es mindestens fünf. Die polnische Regierung nimmt das billigend in Kauf. Sie hat im Grenzgebiet einen Ausnahmezustand verhängt – und damit Hilfsorganisationen ausgesperrt, die den hungernden und frierenden Migranten echte Hilfe leisten könnten – im Gegensatz zur Regierung, die sich auf Scheinaktionen beschränkt. Drei Konvois mit Hilfsgütern hat Warschau Richtung Belarus losgeschickt, damit sie auf belarussischer Seite an Migranten verteilt werden – wohl wissend, dass das Regime von Alexander Lukaschenko das nicht zulassen wird.
Die gescheiterten Hilfstransporte sind ein Sinnbild für das Krisenmanagement der Regierung in Warschau – es geht vor allem darum, Eindruck zu schinden, ohne das Problem zu lösen. Das zynische Kalkül dabei: Je länger die Krise dauert, desto besser für die regierende PiS-Partei. Denn: Die meisten Polen lehnen Flüchtlinge und Migranten ab. Die PiS bedient diese Stimmung, kann sich als Beschützerin des Landes profilieren und bei der Bevölkerung punkten. Die Migrationskrise ist für die Regierungspartei eine politische Goldgrube.
Migrationskrise lenkt von PiS-Versagen ab
Außerdem lenkt die Krise an der Grenze von Problemen im Inland ab. So kletterte die Inflation im Oktober auf den vor kurzem noch unvorstellbaren Wert von 6,8 Prozent. Für Unmut sorgt auch das vor einem Jahr verschärfte Abtreibungsgesetz – Tausende Menschen sind am ersten November-Wochenende dagegen auf die Straße gegangen, nachdem eine 30-Jährige an Sepsis gestorben war, weil die Ärzte ihren nicht überlebensfähigen Fötus nicht abtreiben wollten. Hinzu kommen die andauernden Scharmützel mit der EU, der Streit mit Tschechien um den Braunkohletagebau Turów, Vetternwirtschaft und Korruption der Regierenden. All das lässt die Migrationskrise verblassen.
Diplomatische Offensive bleibt aus
Kein Wunder, dass die Regierung von Mateusz Morawiecki viele Mittel zu deren Lösung ungenutzt lässt. So könnte sie beispielsweise eine diplomatische Offensive starten und mit Hilfe der EU Druck auf Lukaschenko ausüben. Die Androhung neuer Wirtschaftssanktionen könnte den Machthaber in Minsk zur Mäßigung bewegen, denn Belarus steckt in der Krise – westliche Sanktionen würden die Lage weiter verschlechtern und Lukaschenko noch stärker von Putin abhängig machen. Im schlimmsten Fall könnte es zu Streiks in den Betrieben kommen. Wirtschaftlich bedingte Arbeiterproteste ließen sich aber nicht so einfach niederschlagen wie die politischen Proteste nach Lukaschenkos gefälschter Wiederwahl.
Auch in den Herkunfts- und Transitländern könnte man mit Diplomatie einiges erreichen. Das beweist das Beispiel Litauens, das mit Schützenhilfe der EU den Irak dazu brachte, die Zahl der Flüge nach Belarus zu reduzieren und die Arbeit der belarussischen Konsulate einzuschränken. Die EU könnte außerdem Unternehmen sanktionieren, die Charterflugzeuge für den Transport der Migranten und Flüchtlinge zur Verfügung stellen. Letztere müssten in ihren Herkunftsländern zudem aufgeklärt werden, dass Lukaschenkos Regime lügt, sie als "menschliche Waffen" missbraucht und der Weg in die EU mitnichten offensteht.
Keine Grenzschließung, keine NATO-Konsultationen
Sollte die Diplomatie nichts bringen, wäre es außerdem denkbar, alle Grenzübergänge nach Belarus zu schließen. Für ein Transitland, das auch vom Warenverkehr zwischen Ost und West lebt, wäre das eine empfindliche Strafe. Eine weitere Möglichkeit: die NATO einschalten und Konsultationen nach Artikel 4 des NATO-Vertrags fordern. Gerade jetzt, wo immer mehr belarussische Uniformträger mit Waffen in der Hand an der Grenze sichtbar werden und es zu ersten Provokationen kommt, wäre das ein wünschenswertes und deutliches Signal an den Aggressor aus Minsk – bis hierher und nicht weiter.
Nichts davon hat Polen bislang in die Wege geleitet, die Regierung hat noch nicht einmal die Hilfe der europäischen Grenzschutzagentur Frontex angefordert. Es scheint, dass Warschau so lange wie möglich versuchen will, das Problem an der Grenze zu Belarus in Eigenregie zu lösen – aus politischem Kalkül.
Was geschieht an der Grenze zwischen Polen und Belarus?
Seit Anfang Juli kommen verstärkt Migranten und Flüchtlinge aus Fernost, aber auch aus dem Irak, Afghanistan und Afrika per Flugzeug nach Belarus. Von dort versuchen sie, über die grüne Grenze in die EU zu gelangen. Betroffen sind neben Polen auch die baltischen Staaten Litauen und Lettland.
Zu einer ersten Verschärfung dieser Migrationskrise kam es Anfang August 2021, als eine Gruppe von etwa 60 Personen im Grenzraum nahe des Dorfes Usnarz Górny zwischen Belarus und Polen eingeschlossen wurde. Belarussische Grenzschützer ließen sie nicht mehr ins Landesinnere zurück, polnische Grenzschützer verhinderten die Einreise nach Polen und unterbanden Hilfsangebote der polnischen Anwohner. Die Menschen harrten tagelang unter freiem Himmel aus, ohne ausreichende Versorgung mit Nahrung und ohne medizinische Hilfe.
Seit dem 8. November 2021 eskaliert die Lage an der Grenze weiter – diesmal am Grenzübergang in Kuźnica. Auf belarussischer Seite wurden Flüchtlinge und Migranten mit Bussen dorthin gebracht, kamen mit Taxis oder zu Fuß. Nach Schätzungen des polnischen Grenzschutzes halten sich dort derzeit rund 800 Menschen auf. Die Zahl der Migranten, die insgesamt entlang der polnisch-belarussischen Grenze kampieren, schätzt Innenminister Mariusz Kamiński auf bis zu 4.000.
Wie schützt Polen die Grenze zu Belarus?
Um illegale Grenzübergänge zu verhindern, haben Grenzschutz und Militär einen provisorischen Grenzzaun errichtet, der ungefähr 180 Kilometer lang ist. Ausgenommen sind nur Abschnitte, in denen die Grenze entlang von Gewässern verläuft. Trotz dieses Zauns und obwohl der polnische Grenzschutz nach eigenen Angaben täglich Dutzende Grenzübertritte verhindert, ist die Grenze nicht dicht. Nach Informationen von tagesschau.de sind allein im Oktober 2021 rund 5.000 Flüchtlinge und Migranten von Belarus über Polen nach Deutschland weitergereist. Bis Mitte 2022 soll der provisorische Grenzzaun durch einen dauerhaften, besser gesicherten Zaun ersetzt werden.
Wo gilt der Ausnahmezustand in Polen?
Am 2. September 2021 verhängte Polen einen Ausnahmezustand in acht Landkreisen entlang der Grenze. Insgesamt liegen 183 Ortschaften in dem Gebiet. Seitdem ist der Zutritt für Journalisten, Hilfsorganisationen und Politiker nicht möglich. Nur Einwohner dürfen sich im Grenzgebiet aufhalten. Humanitäre Hilfe ist nur noch eingeschränkt möglich. Mindestens fünf Migranten sind inzwischen im Grenzgebiet gestorben, davon einige an Unterkühlung. Auch gibt es keine unabhängigen Informationen von der Lage vor Ort, da Journalisten nicht zugelassen sind.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 09. November 2021 | 17:45 Uhr