Grenze Polen-Belarus Belarus: One-Way-Ticket für Flüchtlinge und Migranten
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12. November 2021, 20:48 Uhr
Belarus hat die Zahl der Flüge aus dem Nahen Osten deutlich aufgestockt. Zu den Passagieren gehören Flüchtlinge und Migranten, die über Belarus an die EU-Außengrenze gebracht werden sollen. Die EU will kommende Woche Sanktionen gegen beteiligte Fluggesellschaften und Reisebüros beschließen. Sie würden zuallererst die staatliche belarussische Airline Belavia treffen. Die erklärte am Freitag, sie werde aus der Türkei vorerst keine Bürger mehr aus dem Irak, Syrien und Jemen nach Minsk befördern.
Rund 50 Flieger aus Dubai, Antalya, Istanbul, Beirut oder dem syrischen Damaskus landen derzeit wöchentlich in der belarussischen Hauptstadt Minsk. Vergleicht man aktuelle und frühere Flugpläne auf der Website des Minsker Airports, sieht man, viele Flugverbindungen aus dem Nahen Osten gibt es seit ein paar Monaten. Auch auf kleineren belarussischen Flughäfen, wie Grodno und Brest, die normalerweise für den Frachtverkehr genutzt werden, landen seit neustem vereinzelt Charterflüge aus Ägypten und der Türkei. Die Tickets dafür werden belarussischen Medienberichten zufolge in einheimischen Reisebüros verkauft. Das Brisante: Die Flughäfen Grodno und Brest liegen nahe der polnischen Grenze, die gleichzeitig EU-Außengrenze ist und an der nach polnischen Regierungsangaben gerade bis zu 4.000 Flüchtlinge und Migranten kampieren.
Erst mit Flieger, dann mit Taxi, Bus oder zu Fuß
Sowohl die Bundesregierung als auch die polnische Regierung und die EU-Kommission gehen seit Wochen davon aus, dass an Bord der Flieger nach Minsk auch Flüchtlinge und Migranten sitzen, die gezielt nach Belarus geholt werden, um sie an die EU-Grenze zu Polen oder Litauen zu bringen – ob mit dem Bus, mit dem Taxi, manche laufen zu Fuß weiter. Kanzlerin Angela Merkel äußerte sich beim EU-Gipfel am 22. Oktober ungewöhnlich deutlich über die Schleuserpraktiken des belarussischen Regimes. An die Adresse von Machthaber Alexander Lukaschenko gerichtet, sagte sie, "dass wir diese Art des Menschenhandels von staatlicher Seite verurteilen".
Reisepakete mit One-Way-Ticket
Vom Auswärtigen Amt hieß es im Oktober, man wisse von Unternehmen, die beispielsweise im Irak, gezielt Reisepakete mit einem One-Way-Flug nach Belarus vermarkten würden. Ähnliche Informationen lieferte der polnische Fernsehsender Belsat, der für den belarussischen Markt sendet. Auf von Zuschauern eingesandten Fotos und Videos ist im Oktober zu sehen, wie Flüchtlinge und Migranten auf Airports in Istanbul und Dubai warten und an einem separaten Check-In-Schalter abgewickelt werden.
In der belarussischen Hauptstadt angekommen, würden sie auf dem Flughafen abgeholt und in staatliche Hotels gebracht, um dort auf ihren Transfer zur EU-Grenze zu warten, berichteten Augenzeugen. 14 Hotels in Minsk werden im Belsat-Bericht aufgelistet, die im Oktober Fluggäste aus dem Nahen Osten aufgenommen hätten. Flüchtlinge selbst schildern in diesen Tagen, sie seien mit einem Touristenvisum eingereist, das man auf Einladung eines belarussischen Reisebüros bekomme, für 60 Euro zum Normaltarif, für das Doppelte im Schnellfahren und für das Dreifache, wenn das Visum erst am Minsker Flughafen ausgestellt wird. Mit jedem Visum verdient der belarussische Staat. Ein Großteil der Flüchtlinge gibt an, weiter nach Deutschland zu wollen.
Erst Westeuropa, jetzt Naher Osten
Die Mehrheit der Nahost-Flüge am Minsker Airport wird von der Belavia-Airline angeboten, die zu 100 Prozent dem belarussischen Staat gehört. In den vergangenen Jahren hatte die Fluggesellschaft ihr Streckennetz in eine völlig andere Flugrichtung ausgebaut: Im April 2017 feierte Belavia die Einführung eines Direktfluges nach Brüssel, im Juli 2019 kam München als Flugziel dazu, zuletzt wurden fast 20 EU-Städte angesteuert. Auch die Zahl der Fluggäste stieg stetig – ein Aufwärtstrend, dem die Corona-Pandemie ein jähes Ende bescherte. Gab die Airline ihren Reingewinn 2019 noch mit 24 Millionen Euro an, hatte sie 2020 eigenen Angaben zufolge einen Nettoverlust von 32 Millionen Euro.
EU sperrt im Sommer Luftraum für Belavia
Seit Juni darf die staatliche Airline zudem weder in die EU fliegen noch den zur EU gehörenden Luftraum durchqueren. Brüssel verhängte die Strafmaßnahme für den gesamten belarussischen Flugverkehr, als Reaktion auf eine im Mai erzwungene Landung einer Ryanair-Maschine in Minsk, in der der regierungskritische Blogger Roman Protassewitsch und seine Freundin saßen. Beide wurden nach der Landung kurzerhand von Sicherheitskräften des Lukaschenko-Regimes festgenommen.
Für die Belavia-Airline bedeutet das Flugverbot finanzielle Verluste, die sie kompensieren muss. Neben Flügen in den Nahen Osten baute die Airline zuletzt ihr Angebot nach Russland aus. Zudem gewährte der Kreml im Mai dem Nachbarland einen 500 Millionen-Dollar-Kredit für die wirtschaftlich angeschlagenen Staatsunternehmen, zu der auch die Belavia-Airline gehört. Belavia-Generaldirektor Igor Tscherginets kommentierte Ende Mai, die EU-Sanktionen träfen mit der Fluggesellschaft "einen Unschuldigen". EU-Strafmaßnahmen sind für Tscherginets jedoch nichts Neues: Sein Vater Nikolai Iwanowitsch Tscherginets gehört zur Entourage von Machthaber Lukaschenko. 2006 standen beide auf einer Verbotsliste hochrangiger belarussischer Funktionäre, die nicht in die EU einreisen durften. Der Vorwurf damals: Wahlfälschung und schwere Menschenrechtsverletzungen beim Vorgehen gegen friedliche Demonstranten.
Airline dementiert Beteiligung an Schleusergeschäft
Jetzt steht die staatliche belarussische Airline wieder im Fokus, diesmal geht es um das illegale Schleusergeschäft mit Flüchtlingen und Migranten. Im Juli hatte Machthaber Alexander Lukaschenko gedroht, massenhaft Flüchtlinge aus Ländern wie Afghanistan, dem Irak und Syrien über die Grenze zu lassen. Die Menschen seien aus Kriegsgebieten unterwegs in das "warme und bequeme Europa". Dass sich die Airline nun an dieser Aktion beteilige, dementierte das Staatsunternehmen in dieser Woche auf eine Anfrage der britischen Tageszeitung "Guardian".
Beförderungsstopp für einige Herkunftsländer
Am Freitag teilte die Belavia-Airline auf ihrer Website mit, vorerst keine Bürger mehr aus Syrien, dem Irak und Jemen aus der Türkei in die belarussische Hauptstadt zu befördern. Die Entscheidung erfolge auf eine entsprechende Anordnung aus Ankara, so die Fluggesellschaft in ihrer Pressemitteilung. Die zivile türkische Luftfahrtbehörde hatte zuvor bekannt gegeben, dass Menschen mit syrischen, irakischen und jemenitischen Pässen vorerst nicht mehr von türkischem Staatsgebiet aus nach Belarus fliegen dürften. Die Turkish Airlines, die Flüge nach Minsk anbietet, hatte in dieser Woche dementiert, an illegalen Schleuseraktivitäten beteiligt zu sein.
Vom irakischen Außenministerium in Bagdad hieß es am Frteitag, man habe die Direktflüge nach Belarus bereits eingestellt. Mit dem Schritt wolle man die eigenen Landsleute vor Menschenhändlern beschützen. Auch sei man bereit, Reisen für Iraker zu organisieren, "die zurückkehren wollen".
Reaktionen von der syrischen Privat-Airline Cham Wings gab es bislang noch nicht. Sie bietet täglich einen Direktflug vom syrischen Damakasus nach Minsk an, Mehrheitsgesellschafter der Airline soll ein Verwandter des syrischen Machthabers Baschar al-Assad sein.
EU kündigt neue Sanktionen an
Die jüngsten Entscheidungen kommen vor dem Hintergrund neuer Sanktionen, die sich gegen Fluggesellschaften oder Reiseveranstalter richten sollen, die Flüchtlinge und Migranten nun über die sogenannte Belarus-Route bringen. Beim EU-Außenministertreffen am Montag sollen die Sanktionen formell beschlossen werden.
Offen ist bislang, ob die neuen Strafmaßnahmen auch das Leasinggeschäft betreffen werden. Das hätte zur Folge, dass irische und dänische Leasingfirmen ihre an Belavia ausgeliehenen Flugzeuge wieder zurückfordern müssten. EU-Kreise erwarten, dass die Staatsairline auf diese Weise mehr als die Hälfte ihrer Jets verlieren würde. Die Belavia müsste damit einen Teil ihrer Flüge streichen.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL, Fernsehen | 10. November 2021 | 17:45 Uhr