Ukraine Wird Tschernobyl ein Katastrophen-Disneyland?
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31. Juli 2021, 13:44 Uhr
Die Ukraine gilt im Westen nicht unbedingt als touristische Hochburg. Mit einer Ausnahme: Die Sperrzone um den Atomreaktor Tschernobyl lockt jährlich immer mehr ausländische Touristen. 2019 verdiente der ukrainische Staat damit rund 93 Millionen Euro. Doch es gibt auch Befürchtungen, dass sich Tschernobyl zu einer Art Katastrophen-Disneyland entwickeln könnte.
In der Ukraine gibt es durchaus touristische Highlights: Etwa Odessa am Schwarzen Meer oder Lwiw tief im Westen des Landes. Doch als Hotspot für ausländische Touristen gilt das Land sicher nicht. Bis auf eine Ausnahme: Tschernobyl. Vor der Corona-Pandemie entwickelten sich die Reisen in die Gegend um den 1986 explodierten Atomreaktor rasant. Während 2014 die etwa 30 Kilometer lange Sperrzone von geschätzt 8.000 Menschen besucht wurde, kamen 2019 schon rund 124.000 Touristen. 80 Prozent der Besucher kamen nach offiziellen Angaben aus dem Ausland – in erster Linie aus Deutschland, Großbritannien, Polen und den USA.
HBO-Serie verspricht steigende Zahlen
Für das Jahr 2020 hatten die Prognosen einen Besucherrekord vorhergesagt – und zwar ausgerechnet als Folge der erfolgreichen HBO-Miniserie um die Tschernobyl-Katastrophe. Doch wegen der Corona-Pandemie ging die Zahl der Touristen um mehr als 70 Prozent zurück. Es ist jedoch offensichtlich, dass das Interesse ausländischer Touristen an Tschernobyl kontinuierlich wächst - und so konnten bereits 2021 wieder steigende Zahlen verzeichnet werden. Dabei ist oft nicht nur reiner Katastrophentourismus die Hauptmotivation. Nicht selten sind die Besucher schlicht interessiert, die Sowjetunion so zu erleben, wie sie 1986 war. Denn in der Gegend um Tschernobyl steht die Zeit quasi still.
Bewachtes Objekt mit Zugangskontrollen
Die Sperrzone ist ein bewachtes Objekt mit Zugangskontrollen. Ohne einen Guide ist es nahezu unmöglich, legal dorthin zu gelangen. Wer es auf eigene Faust probiert, riskiert eine Strafe. Insgesamt gibt es inzwischen 18 akkreditierte Reisebüros, die Touren nach Tschernobyl anbieten. Die Reisen werden in Absprache mit der Verwaltung der Sperrzone organisiert. Sie stellt die Passierscheine aus. Dies läuft vorab ausschließlich über ein elektronisches System, um größere Schlangen am Übergangspunkt zu verhindern. Denn es ist in der sommerlichen Hochsaison normal, dass sich dort bis zu 1.500 Menschen versammeln. Verpflichtend ist zudem die Anwesenheit eines Reiseleiters.
Die Busse fahren in der Regel am Morgen in Kiew los, in bis zu zwei Stunden ist man vor Ort. Gebucht werden normalerweise zwölfstündige Reisen in die Geisterstädte Tschernobyl und Prypjat. Beide Orte wurden nach dem Unglück geräumt, verfielen mit den Jahren und entwickelten so ihr ganz eigenes Flair. Zum Programm gehört auch der Besuch der Aussichtsplattform des Schutz-Sarkophags, der über dem vierten Kraftwerk nach der Explosion von 1986 gebaut wurde. Für Ausländer kostet eine solche Tour rund 95 Euro. Für Ukrainer ist der Preis deutlich geringer. Mehrtägige Reisen sind auch möglich, die Übernachtung ist aber logistisch kompliziert. Es gibt zwar vereinzelte Hotels für administrative Mitarbeiter der Sperrzone, diese sind aber klein und veraltet, daher wird für die Nacht oft die Ausreise aus der Zone empfohlen.
Touristen-Magnet Tschernobyl
Nach offiziellen Angaben ist es nicht gesundheitsgefährdend, sich bis zu fünf Tagen in den zugänglichen Gebieten von Tschernobyl aufzuhalten. Es ist aber streng verboten, leichtbekleidet, also in T-Shirt oder Kleid unterwegs zu sein. Der Körper muss so gut wie möglich bedeckt sein. Zudem ist es nicht erlaubt, Gegenstände aus der Sperrzone mitzunehmen. Die Kontrolle läuft dabei durchaus akribisch. Darüber hinaus darf man die betroffenen Wohn- und Industriegebäude nicht betreten oder in einem Umkreis von fünf Kilometern um das eigentliche Kraftwerk Filmaufnahmen machen.
Der Besucherstrom der letzten Jahre hat auch die ukrainische Regierung dazu gebracht, ihre Tschernobyl-Strategie zu überdenken. Anfangs entwickelte sich der Tourismus dort nur dank des Einsatzes der entsprechenden Reiseveranstalter, mittlerweile hat nun aber auch die Regierung in Kiew das Potenzial für sich entdeckt – Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach gar von einem "touristischen Magneten". Umgerechnet 93 Millionen Euro spülte der Tschernobyl-Tourismus 2019 in den ukrainischen Haushalt.
Kritik am Katastrophen-"Disneyland"
Es gibt aber auch Stimmen, die befürchten, dass sich Tschernobyl irgendwann in eine Art "Disneyland" verwandeln könnte. Davor warnte unter anderem der Verband der Tschernobyl-Reiseveranstalter. Denn immer wieder gibt es kuriose Ideen in Bezug auf die Region: So wurde 2019 auf staatlicher Ebene diskutiert, Ballonfahrten über der Sperrzone zu etablieren – ein Vorschlag, der am Ende noch abgelehnt wurde. Denn eigentlich will die Regierung, dass Tschernobyl zuvorderst ein Ort des Gedenkens bleiben soll. Schließlich hatten in Folge des Super-GAUs rund 100.000 Menschen die Region verlassen müssen. Außerdem möchte man auch zeigen, wie die Ukraine die Folgen dieses Unglücks bewältigt.
Doch die offizielle Entwicklungsstrategie bis 2030 enthält auch weitere Projekte, die vor allem für Erlebnishungrige gedacht sind: Demnach könnten die Besucher das Sperrgebiet mit dem Hubschrauber erkunden. Zudem denkt man über eine rund 20 Kilometer lange Kajakroute auf der Prypjat nach. So kann man die gleichnamige Geisterstadt vom Wasser aus erkunden. Außerdem gibt es die Idee einer Seilbahn, die den Reaktor mit den beiden Städten verbinden soll. Ob es damit gelingen würde, den Touren durch Tschernobyl den Beigeschmack des Katastrophentourismus zu nehmen, ist allerdings zweifelhaft.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Heute im Osten Reportage | 24. April 2021 | 18:00 Uhr