Belarus und die Folgen von Tschernobyl Der Liquidator von Tschernobyl: "Die Beamten haben total versagt!"
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Interview mit Juri Woroneschtsew
26. April 2021, 12:26 Uhr
Der Physiker Juri Woroneschtsew wohnt in der belarussischen Stadt Gomel, als es 1986 zum Reaktorunfall in Tschernobyl kommt. Gomel ist nur 120 Kilometer Luftlinie von Tschernobyl entfernt. Später ist Woroneschtsew Sekretär der sowjetischen Untersuchungskommission für Tschernobyl. Er lebt noch heute in Gomel, der Hauptstadt der weißrussischen Oblast, die am schlimmsten vom radioaktiven Niederschlag betroffen war.
Wie haben Sie damals von der Katastrophe erfahren?
Ich kann mich gut daran erinnern. Es war ein sonniger, aber windiger Tag. Meine Frau und ich gingen spazieren. Und als wir wieder zu Hause waren, rief eine Freundin meiner Frau bei uns an. Sie war gerade zu Besuch bei ihren Eltern in Bragin im Kreis Choiniki, nahe der ukrainischen Grenze. Sie erzählte, dass ein Atomkraftwerk explodiert sei und dass sie eine große Kolonne von Feuerwehrautos und Krankenwagen aus Gomel kommend gesehen habe. Ich sagte zu meiner Frau: "Larissa, wir haben in Belarus keine Atomkraftwerke. Das muss ein Irrtum sein." Aber dann erinnerte ich mich, dass es eines in Tschernobyl gibt. Da habe ich mir dann Sorgen gemacht. Am nächsten Morgen nahm ich das Dosimeter aus dem Institut, wo ich arbeitete, und wir haben in Gomel ein sehr hohes Strahlungsniveau gemessen. Dann haben wir angefangen, ausländische Medien im Radio zu hören und von der BBC haben wir erfahren, was in Tschernobyl passiert ist. In der Zeitung "Prawda" erschien einen Tag später nur eine kleine Notiz, dass es ein Feuer in Tschernobyl gab.
Wie haben Sie sich verhalten? Wie haben die Behörden reagiert?
Ich rief sofort meine Eltern in Brest, einer Stadt im Norden von Belarus, an. Ich bat sie, meinen damals 6-jährigen Sohn bis auf weiteres bei sich zu behalten. Dass sich eine Katastrophe ereignet hatte, verstand niemand. Oder man gab vor, es nicht zu verstehen. Trotz des Reaktorunfalls fand dann auch die Parade zum Maifeiertag statt. Ein echtes Verbrechen. Man hätte die Menschen nicht auf die Straße gehen lassen dürfen, damit sie kein radioaktives Jod einatmen. Und noch viele weitere Dinge sind passiert. Man hat zum Beispiel damit begonnen, radioaktives Fleisch zu verkaufen. Verseuchtes Fleisch wurde mit sauberem vermischt.
Waren Sie 1986 nach dem Unfall selbst vor Ort in Tschernobyl?
Ja, wir haben gemeinsam mit japanischen und deutschen Wissenschaftlern ernsthafte Forschungsarbeiten durchgeführt. Ich bin bis heute dankbar für die Ausrüstung, die wir damals als humanitäre Hilfe aus Deutschland, Japan und Italien geliefert bekommen haben. Deutschland und Italien sind die beiden Länder, die uns am meisten geholfen haben. Wenn Sie heute Leute fragen, die zwischen 15 und 20 Jahre alt sind, ob sie in Deutschland oder Italien zur Kur gewesen sind, werden wohl die meisten mit "ja" antworten. Da bin ich mir sicher.
1989 wurden Sie zum Volksabgeordneten der UdSSR gewählt. Im Obersten Sowjet der UdSSR waren Sie leitender Sekretär in der sowjetischen Untersuchungskommission für Tschernobyl. Worin bestand die Aufgabe dieser Kommission?
Die Kommission sollte die Ursachen des Unfalls von Tschernobyl überprüfen und beurteilen, ob unmittelbar nach der Havarie richtig gehandelt wurde. Wir haben die Maßnahmen der verantwortlichen Beamten ausgewertet und dem Generalstaatsanwalt der UdSSR eine Reihe von Ergebnissen mit Schlussfolgerungen übergeben. Ich denke, dass daraufhin gegen viele Personen Strafverfahren angestrengt wurden. Aber der Zusammenbruch der Sowjetunion hat diese Menschen "gerettet". Alles verlief im Sande und hatte keine weiteren Folgen.
Unsere Untersuchung hatte ergeben, dass die verantwortlichen Beamten total versagt hatten. Vor allem, weil sie die Katastrophe verschwiegen. Die Leute hätten dringend evakuiert werden und kostenlose Jod-Medikamente bekommen müssen. Man hätte die Mitarbeiter des Kernkraftwerkes und die Menschen in der Umgebung darüber aufklären müssen, wie sie sich verhalten sollen. Gomel zum Beispiel hätte nicht zwingend evakuiert werden müssen, aber es wäre notwendig gewesen, die Schilddrüsen der Kinder zu schützen. Man hätte den Eltern also sagen müssen: Behaltet die Kinder ein oder zwei Wochen zu Hause, damit sie möglichst nicht dem radioaktiven Jod ausgesetzt werden. Weshalb haben die Behörden nicht auf die Wissenschaftler gehört, die über die Gefahren gesprochen haben? Natürlich wurden die Menschen, die in direkter Nähe zum Unglücksreaktor lebten, evakuiert. Aber zu spät. Unter dem Druck unserer Kommission und der Öffentlichkeit sowie einiger Abgeordneter wurden Programme zur Bewältigung der Katastrophe entwickelt. In deren Folge wurden dann weitere Menschen in saubere Gebiete umgesiedelt. Aber auch das kam zu spät.
Wie lebt man heute mit den Spätfolgen von Tschernobyl in Gomel?
Ich denke nicht, dass sich Gomel heute noch von anderen Städten unterscheidet. Es gibt hier schon saubere Erde, saubere Luft, saubere Bäume. Alles ist gut hier, aber nur 15 oder 20 Kilometer von hier entfernt, gibt es Gebiete, in denen es gefährlich ist, zum Beispiel Pilze oder Beeren zu sammeln. Es gibt auch sehr verschmutzte Orte, gesperrte Zonen. Ein Problem ist, dass man im Radius von 50 Metern sehr unterschiedliche Verschmutzungen finden kann. Das eine Stückchen Boden ist sauber und zehn Meter weiter ist der Boden kontaminiert. Wer Lebensmittel selbst erzeugt, sollte sie vor dem Verzehr auf jeden Fall überprüfen lassen. Alles, was an den Läden vorbei geht, vorbei an den offiziellen Kontrollen, darf auf keinen Fall ohne Überprüfung gegessen werden. Und allen Einwohnern von Gomel, besonders älteren Leuten, empfehle ich, regelmäßig zum Arzt zu gehen.
Wenn die Böden der Oblast Gomel so "fleckig" verschmutzt sind, ist das Betreiben von Landwirtschaft doch sehr riskant. Warum investiert die weißrussische Regierung trotzdem in die Landwirtschaft hier?
Mit gesundem Menschenverstand ist das schwer zu erklären, weil die Investition in diese Böden letztlich viel weniger Gewinn abwirft als die Investition in saubere Böden, von denen es in Belarus mehr als genug gibt. Wir haben fast einen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche pro Kopf und man wundert sich, warum man das Geld nicht lieber in die sauberen Minsker, Brester oder Grodnoer Gebiete steckt, wo man viel höhere Gewinne erzielen würde.
Außerdem: Auch wenn hier mit Hilfe spezieller Düngemittel und irgendwelcher Stoffe, die Radionuklide binden, Landwirtschaft betrieben wird und das Vieh zusätzlich mit Pektinen gefüttert wird, damit das Fleisch möglichst sauber bleibt, darf man die Traktoristen nicht vergessen, die diese schmutzigen Felder beackern und den Staub einatmen.
Also gemäß der Konzeption, die selbst das geringste Risiko für die Bevölkerung ausschließen wollte und die noch in der UdSSR und später auch von der Republik Belarus mit Fachleuten ernsthaft erarbeitet worden war, ist man sicher nicht davon ausgegangen, dass die Menschen auf diesen kontaminierten Böden wieder Landwirtschaft betreiben, und es wurde damals auch nicht geplant, Arbeitsplätze im Bereich der landwirtschaftlichen Produktion zu schaffen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 27. April 2018 | 17:45 Uhr