Kriegsalltag Comedy-Boom in der Ukraine: Darf man im Krieg lachen?
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22. April 2023, 15:16 Uhr
Viele Ukrainer empfinden es als unangebracht, während des russischen Angriffskrieges tanzen oder feiern zu gehen. Doch Stand-up-Comedy ist zur willkommenen Ablenkung vom Kriegsalltag geworden. Die Aufrufe der ukrainischen Stand-up-Komiker auf YouTube sind enorm gestiegen, ebenso die Zahl ihrer Live-Auftritte. Den Boom treibt auch die totale Abkehr von russischen Comedy-Produktionen an.
Kultur hat es in der Ukraine in Kriegszeiten schwer. Zwar bekommen ukrainische Film- und Musikproduktionen im Ausland nun mehr Aufmerksamkeit. Doch die finanzielle Grundlage der Unterhaltungsindustrie ist zusammengebrochen. Ja, es gibt sie noch, Konzerte und Theatervorstellungen, selbst in frontnahen Städten wie Charkiw oder Saporischschja. Doch selbst in Städten fernab der Front, wie in Kiew oder Lwiw, haben deutlich weniger Menschen Lust darauf. Ganz abgesehen davon, dass die Vorstellungen überall im Land und jederzeit durch Luftalarm unterbrochen werden.
Krieg macht Stand-up-Comedy noch beliebter
Aber es gibt einen Bereich in der Kulturbranche, der vom Krieg profitiert hat: die ukrainische Stand-up-Comedy. Stand-up war in der Ukraine schon vor der russischen Invasion beliebt, große Teile des Marktes wurden allerdings, ähnlich wie die Welt der Pop-Musik, von russischen Künstlern dominiert, deren Shows auch in der Ukraine millionenfach auf YouTube geklickt wurden.
"Die Ukrainer waren auch vor dem russischen Überfall konkurrenzfähig. Aber erst nach dem Angriff sind die Views der ukrainischen Komiker wirklich um das Mehrfache gestiegen", berichtet Medienexpertin Halyna Petrenko. Zwei weitere Faktoren hätten außerdem eine Rolle gespielt – einerseits scheint Satire in der aktuellen Lage angebrachter als andere Unterhaltung, andererseits finden Stand-up-Auftritte meist in Kellerbars statt, die während eines Luftalarms nicht schließen müssen.
Was ist Stand-up-Comedy?
Als Stand-up-Comedy bezeichnet man gesprochene Soloauftritte von Komikerinnen und Komikern. Im Unterschied zum klassischen Kabarett setzt Stand-up-Comedy stärker auf das Charisma des Komikers und seine Interaktion mit dem Publikum als auf künstlerische Feinheiten, die im Kabarett oft bis ins letzte Detail ausgearbeitet sind. Gesangseinlagen oder aufwendig dekorierte Kulissen, wie man sie aus dem Kabarett kennt, sind im Stand-up-Bereich nicht üblich. Die Künstler treten oft vor einem schlichten Vorhang auf. Ziel der Stand-up-Komiker ist es, das Publikum zum Lachen zu bringen, weniger Gesellschaftskritik zu üben. Allerdings sind die Grenzen zwischen Stand-up-Comedy und Kabarett gelegentlich fließend.
Die Stand-up-Nummern sind meist einstudiert, können aber auch spontane Einlagen beinhalten. Es gibt sowohl abendfüllende Programme eines Künstlers als auch kleinteilige Programme mit kurzen Auftritten mehrerer Komiker nacheinander.
Swjatoslaw Sagajkewytsch (33) hat vor rund fünf Jahren das inzwischen führende Projekt Underground Standup gegründet. Die Bar in der Kiewer Oberstadt ist an einem Donnerstagabend so gut wie voll. Fünf Komiker unterhalten abwechselnd das Publikum, Sagajkewytsch moderiert und gibt eine kleine Nummer zum Besten. "Es ist in vielerlei Hinsicht ein merkwürdiges Gefühl, dass es uns als Branche besser als vor dem Krieg geht", sagt er. "Wir haben uns ständig weiterentwickelt und ich würde den aktuellen Erfolg keinesfalls nur auf den Krieg reduzieren. Wir hätten mit dem Talent unserer Komiker auch ohne den Krieg viel erreicht."
Es ist in vielerlei Hinsicht ein merkwürdiges Gefühl, dass es uns als Branche besser als vor dem Krieg geht.
Stand-up-Komiker unterstützen Armee
Fakt ist aber: Der russische Angriff auf die Ukraine hat den Aufstieg von Underground Standup in der Tat stark beschleunigt: Statt zwei Vorstellungen pro Woche wie früher sind es nun fünf. Außerdem treten Komiker des Underground Standup inzwischen nicht nur in Bars und Clubs auf, sondern ein bis zweimal pro Monat auch im Kiewer Oktoberpalast, dessen Bedeutung etwa mit der des Berliner Admiralspalasts vergleichbar ist. Der Erlös aus diesen großen Shows wird zu 100 Prozent an die ukrainische Armee gespendet. Bei regulären Shows gehen rund 20 Prozent der Einnahmen an die Streitkräfte.
"Nach dem 24. Februar 2022 brauchte ich etwa fünf Tage, um wieder mit dem Schreiben der Witze anzufangen", erinnert sich Sagajkewytsch an den Kriegsausbruch. "Wir haben uns dann mit anderen Komikern im Team abgesprochen und vorerst einen Stream auf YouTube organisiert, in dem wir einfach das Geschehen besprachen und versuchten, den Menschen mit Humor und Satire Mut zu machen."
Ablenkung vom Kriegsalltag
Das Vorhaben hat enorm viel Zuspruch erhalten, und als die russische Armee Ende März die Vorstädte von Kiew endgültig verließ, fanden gleich wieder Live-Auftritte statt. "Die Straßen waren noch leer und man wurde alle fünf Minuten an einem Checkpoint von Polizisten oder Armeeangehörigen gestoppt", erinnert sich Dmytro Bilous, ein weiterer Komiker des Projekts. "Die Bars waren aber voll und die Atmosphäre war unglaublich. Alle waren so froh, einander zu sehen und endlich gemeinsam über etwas lachen zu können. Selbst Unbekannte haben einander umarmt."
Ein Jahr später ist zwar wieder ein Stück Alltag eingekehrt, doch dass sich die Ukraine unverändert im Krieg befindet, ist sowohl den Komikern als auch dem Publikum anzumerken. Gescherzt wird natürlich nicht ausschließlich über Krieg und Politik, wobei Witze über russischen Generäle oder den belarussischen Diktator Aleksandr Lukaschenko großen Zuspruch erhalten.
Doch selbst wenn es auf den ersten Blick um Alltagsthemen geht, wird die aktuelle Lage in der einen oder anderen Form erwähnt. Bei Witzen über Tinder-Dates in Kriegszeiten spielt etwa das Thema nächtliche Sperrstunde automatisch eine Rolle. Für viel Gelächter sorgt auch der Scherz, dass die Ukrainer keine posttraumatische Belastungsstörung haben können, weil das Trauma selbst noch nicht vorbei ist.
Lachen hilft gegen Kriegstrauma
"Für mich sind diese Auftritte eine legale Möglichkeit, abzuschalten. Und Ablenkung braucht man, sonst wird man irgendwann verrückt", sagt Anastassija, eine junge Besucherin der Show am Donnerstagabend. Ähnlich wie sie antworten die meisten Gäste, wenn man sie fragt, warum sie mitten im Krieg Stand-up-Auftritte besuchen. "Man fühlt sich irgendwie schlecht, wenn man in Zeiten wie diesen tanzen geht. Doch Comedy ist so tagesaktuell, dass man sich innerlich weniger dafür schämt, zu lachen, während unsere Jungs bei Awdijiwka und Bachmut kämpfen."
Für die Frontkämpfer sammelt der Komiker Dmytro Bilous mit einem weiteren Kollegen Geld auf einer Europa-Tournee, die sich vor allem an ukrainische Flüchtlinge im Ausland richtet. Eine der Stationen war am 19. April Leipzig. Auch auf dieser Tour werden die Einnahmen zu 100 Prozent an die Armee weitergeleitet.
"Das ist aktuell das Allerwichtigste. Jeder trägt bei, was er beitragen kann", betont Bilous. "Doch nach dem Sieg wäre es ganz nett, mit der eigenen Arbeitmal auch selbst etwas mehr zu verdienen." Und Swjatoslaw Sagajkewytsch fügt hinzu: "Wir hoffen aber jetzt vor allem, dass einer unserer besten Komiker, Serhij Lipko, heil aus der Armee zurückkehrt. Alles andere ist im Moment zweitrangig, auch unser Erfolg."
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten – Podcast aus Osteuropa | 16. April 2023 | 07:17 Uhr