Angriffskrieg auf die Ukraine Kiew bei Stromausfall: Die hohe Kunst des Improvisierens
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15. Dezember 2022, 12:31 Uhr
Seit dem 10. Oktober 2022 beschießt Russland gezielt die ukrainische Energieinfrastruktur. Die Hauptstadt Kiew ist neben Odessa am meisten von den Angriffen betroffen. Die Folge: Die Menschen können am Rande der Stromausfälle und Luftalarme gar nichts mehr planen. Das zehrt auch an den Kräften unseres Autors Denis Trubetskoy.
Seit mehr als zwei Monaten greift Russland gezielt die Energieinfrastruktur der Ukraine an. Die Hauptstadt Kiew mit ihren drei Millionen Einwohnern ist dabei eines der Hauptziele des russischen Raketen- und Drohnenbeschusses. Es gibt kaum ein wichtiges Kraftwerk, das nicht zumindest teilweise beschädigt wurde. Ein harter Winter steht bevor, denn ich rechne nicht damit, dass sich das bald entscheidend ändert.
Zwar versuchen die Energiebetreiber, die Kunden regelmäßig mit Strom zu versorgen. Theoretisch gibt es einen Plan, wann der Strom an- und abgeschaltet wird. Praktisch klappt das jedoch nicht, und wir wissen nie, wann wir mit Stromausfällen rechnen müssen. Außerdem ist die Stromversorgung davon abhängig, wo man wohnt: Die Energieinfrastruktur auf dem östlichen Dnipro-Ufer ist schwerer beschädigt als die auf dem westlichen. Daher sind Stromausfälle dort länger und unvorhersehbarer.
Mein Leben: eine Improvisation
Ich wohne zwar im westlichen Teil der Stadt, doch auch mein Leben, vor allem meine Tätigkeit als Journalist, ist zu einer Riesenimprovisation geworden. So habe ich zum Beispiel weihnachtliche Lichterketten, die mit einfachen Batterien betrieben werden, noch nie so geschätzt wie in den letzten zwei Monaten: Bei Stromausfällen haben sie sich als unfassbar praktische Lichtquelle erwiesen. Es ist daher kaum überraschend, dass die Nachfrage danach höher als je zuvor ist – mit Weihnachten oder mit dem in der Ukraine eigentlich bedeutenderen Neujahr hat das aber nichts zu tun.
Strom gibt es im Einkaufszentrum
Mit meinen Nachbarn versuchen wir zudem, mit zusätzlichen Akkus dafür zu sorgen, dass unsere WLAN-Verbindung auch bei Stromabschaltungen funktioniert. Darüber hinaus ist aber vor allem ein großes Einkaufszentrum um die Ecke oft meine Rettung. Dessen Besitzer haben nicht nur vier Generatoren im Gesamtwert von umgerechnet 150.000 Euro, sondern auch ausreichend Terminals für das Satellitennetzwerk Starlink, das einen uneingeschränkten Internet-Zugang bietet, besorgt. So kann in dem Shoppingtempel nun kostenlos gearbeitet oder das Smartphone aufgeladen werden.
Bei einem Luftalarm muss das Einkaufszentrum jedoch zumachen, und so bleibt es für mich herausfordernd, Texte oder andere journalistische Beiträge rechtzeitig an die Redaktionen zu schicken – oder diese über Probleme mit dem Zeitplan zu informieren. Es ist keine Seltenheit, dass selbst Mobilfunk und mobiles Internet bei Stromausfällen komplett weg sind. Dann muss man in einen anderen Stadtteil fahren, wo es noch Strom gibt. Zum Glück wohne ich sehr nah an einer U-Bahn-Station – denn ein Taxi zu bestellen klappt ohne Handynetz natürlich auch nicht! Irgendwie findet man am Ende aber immer eine Möglichkeit, alles zu erledigen, was man erledigen muss. Doch es kostet viel mehr Kraft und Zeit als sonst.
Erledigungen kosten viel mehr Kraft
Zur Wahrheit gehört aber auch: Andere Menschen müssen noch viel mehr improvisieren als ich in meiner eher privilegierten Position als Auslandsjournalist. Gerade kleinere Unternehmer wie Kaffeestandbetreiber brauchen oft einen Benzingenerator, der wegen der riesigen Nachfrage inzwischen umgerechnet fast 2000 Euro kostet. Hinzu kommen horrende Benzinkosten. In der Gegend, in der ich wohne, hat inzwischen so gut wie jeder Kiosk oder kleines Geschäft einen Generator. "Das Wichtigste für mich ist aber, dass ich überhaupt arbeiten kann", sagt Petro Kutscherenko, Besitzer von zwei Kaffeeständen bei mir um die Ecke. "Selbst wenn das teils Minusgeschäft ist: Ich würde komplett verrückt werden, wenn ich jetzt nicht arbeiten würde."
Doch selbst der Kaffee-Verkauf ist derzeit nicht einfach, gerade, was die Bezahlung betrifft. In der Ukraine und gerade in Großstädten wie Kiew wird normalerweise alles mit Karte bezahlt. Bei Stromausfällen funktionieren die aber oft nicht. Deswegen versuchen die Menschen, so viel Bargeld wie möglich abzuheben. Man gibt es, soweit es geht, jedoch nicht aus, sondern lässt es für den Fall eines größeren Stromausfalls zu Hause.
Die schwerste Zeit steht noch bevor - aber kaum jemand will weg
Die Stimmung in Kiew ist nicht gut, doch sie ist auch nicht so schlecht wie man meinen mag: Die Menschen haben sich angepasst und wissen, dass die eigentlich schwierigen Monate noch bevorstehen. Obwohl keine Besserung in Sicht ist, kenne ich nur eine Person aus meinem Umfeld, die den Winter in der EU verbringen wird. Auch sie will aber im Frühjahr unbedingt zurückkehren.
Die Kiewer wissen zudem, dass es den ukrainischen Soldaten und Zivilisten nahe der Frontlinie noch viel schlimmer geht als ihnen. Außerdem ist es nicht Kiew, sondern die südukrainische Millionenstadt Odessa, in der die Energielage am schwierigsten ist. Während des Beschusses am Montag vergangener Woche konnten fast alle nach Kiew fliegende Raketen von der Flugabwehr abgefangen werden. Wenige Tage später wurde Odessa von Kampfdrohnen schwer getroffen. Den Menschen dort stehen deshalb sehr schwierige Wochen und Monate bevor. Aber auch für Kiew ist ein solches Schicksal bei weiteren Angriffen durchaus wahrscheinlich.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 14. Dezember 2022 | 06:00 Uhr