Blick auf ein zerstörtes Auzto und die komplatt entglaste Hausfront im Hinterhof der Universität Charkiw.
Zerbombtes Gebäue der Wirtschaftsfakultät der Karasin-Universität in Charkiw. Der Lehrbetrieb geht trotz der Zerstörungen weiter, wird aber regelmäßig durch Bombenalarm und Stromausfälle unterbrochen. Bildrechte: IMAGO/ZUMA Wire

Ukraine Studieren im Krieg: Seminar zwischen Luftalarm und Stromausfall

19. April 2023, 14:16 Uhr

In Deutschland fängt in diesen Tagen das neue Studiensemester an. In der Ukraine hat es schon längst begonnen – traditionsgemäß im Februar. Doch wie sieht ein Studium in Zeiten des Krieges aus, wenn Bombenalarm und Stromausfälle die Seminare und Übungen ständig unterbrechen? Wir werfen einen Blick nach Charkiw – die Millionenstadt im Nordosten der Ukraine galt lange als Studentenhauptstadt des Landes.

Anna Kolomiitseva
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Vor dem Ukraine-Krieg studierten rund 160.000 Menschen in Charkiw, darunter die ukraineweit höchste Zahl von Ausländern – 12.000. Die Stadt war Sitz von 69 staatlichen und privaten Hochschulen. Die älteste und traditionsreichste Hochschule der Region ist die Nationale Karasin-Universität, die sich dreier Nobelpreisträger rühmt. Sie wurde 1805 auf Initiative von Wassil Karasin, einem Aufklärer und Freund Goethes gegründet.

Nobelpreisträger aus Charkiw

Die Nationale Karasin-Universität Charkiw betrachtet drei Nobelpreisträger als ihre Absolventen oder ehemalige Mitarbeiter:

  • Ilja Metschnikow war Biologe. Er entdeckte 1883 die Immunabwehr-Mechanismen gegen Bakterien durch weiße Blutzellen (Phagozytose). 1908 erhielt er für seine Arbeiten über Immunität gemeinsam mit Paul Ehrlich den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Er studierte von 1862 an zwei Jahre lang an der Universität Charkiw.
  • Simon Smith Kuznets war Wirtschaftswissenschaftler. Er führte den Begriff des Bruttosozialproduktes ein und entdeckte den 15- bis 20-jährigen Konjunktur-Zyklus im Wirtschaftswachstum von Industrieländern. 1971 erhielt er den sogenannten "Wirtschaftsnobelpreis", der allerdings nicht von Nobel selbst, sondern von der schwedischen Reichsbank in Erinnerung an Alfred Nobel gestiftet wurde. Ab 1918 studierte er in Charkiw, wobei nicht völlig klar ist, ob er direkt an der Universität oder nur am Charkiwer Handelsinstitut eingeschrieben war.
  • Lew Landau war Physiker und verfasste Schriften zu fast allen Bereichen der modernen Physik. 1962 erhielt er für seine Arbeiten zur Theorie der kondensierten Materie (vor allem zum flüssigen Helium) den Nobelpreis für Physik. Er lehrte von 1932 bis 1937 an der Universität Charkiw.

Universität mit Luftschutzraum

Nach dem 24. Februar 2022 wurde die Karasin-Universität wie ganz Charkiw durch die russischen Angriffe stark in Mitleidenschaft gezogen. Zwei Uni-Gebäude, ein Sportkomplex und zwei Wohnheime wurden komplett zerstört. Ein weiteres Gebäude und die Uni-Klinik sind beschädigt. Im Hauptgebäude der Universität barsten die Fensterscheiben. Zum Glück kamen keine Studenten ums Leben, weil in der Zeit keine Präsenzveranstaltungen abgehalten wurden. Die entstandenen Schäden werden auf etwa 100 Millionen Euro beziffert. Doch die Uni hat nicht aufgeben. Sie hat inzwischen auf Kriegsbetrieb umgestellt.

Keiner wird vorbereitet, Uni-Rektor in Kriegszeiten zu sein.

Prof. Tetiana Kahanowska, Rektorin der Nationalen Karasin-Universität Charkiw

Dazu zählt unter anderem die Einrichtung einer bombensicheren Kantine der Universität. Sie ist mit mehreren leistungsstarken Generatoren, einem stabilen Internetanschluss, Powerbanks und allem Komfort ausgestattet. Die Räume bieten Uni-Mitarbeitern Schutz bei Luftalarm. Außerdem werden sie für die raren Präsenzveranstaltungen genutzt.

Online-Studium wegen Krieg verlängert

Jewhen, Dozent für ukrainische Geschichte an der Universität Charkiv
Jewhen Sachartschenko, Dozent für ukrainische Geschichte an der Universität Charkiw Bildrechte: Anna Kolomiitseva

98 Prozent aller Lehrveranstaltungen finden allerdings online statt, berichtet Jewhen Sachartschenko, Dozent für ukrainische Geschichte an der historischen Fakultät. Das Online-Studium kennt man seit der Corona-Pandemie, alle Kolleginnen und Kollegen hätten sich an Online-Meetings gewöhnt, so Sachartschenko. Wegen des Krieges musste die Online-Ära verlängert werden, doch es sei noch schwieriger geworden.

Ungefähr einmal pro Monat wird die kritische Infrastruktur durch Russland beschossen, danach erleben wir immer eine Mini-Steinzeit.

Jewhen Sachartschenko, Dozent für ukrainische Geschichte

"Nach solchen Angriffen gibt es keinen Strom und keinen Mobilfunk. Ich kann meine Vorlesung nicht einmal offiziell absagen", erzählt Sachartschenko. Auch den Zusammenhalt der Uni-Community aufrechtzuerhalten, sei schwieriger geworden. Während man sich in der Pandemie wenigstens ab und zu habe sehen können, sei das im Krieg deutlich schwieriger. Dazu kommen noch regelmäßige traurige Nachrichten: Mehrere Studenten oder Absolventen der Fakultät meldeten sich an die Front – einige sind bereits gefallen.

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Auf die Frage, wie die Leistungen der Studierenden in Kriegszeiten sind, sagt Sachartschenko, dass die Guten wie immer weiter fleißig lernen würden, und die Schlechten eben nicht. "Es ist egal, ob jemand in der letzten Reihe im Seminarraum einschläft oder online mit abgeschalteter Kamera in seinem Bettchen döst."

Kaum Studentenleben im Exil

Anton Anossow, studiert Philosophie an der Karasin-Universität in Charkiw
Anton Anossow studiert Philosophie an der Karasin-Universität Charkiv. Bildrechte: Anton Anossow

Doch es ist nicht immer nur Faulheit, die Studierende vom Lernen abhält, denn auch sie haben es nicht leicht. Anton Anossow beispielsweise studiert im vierten Semester Philosophie. In den zwei Jahren seines bisherigen Studiums hat er nur wenige Monate lang einen normalen Lehrbetrieb in Präsenz erlebt, denn erst kam die Pandemie und dann der Krieg.

"Wenn es leibhaftige Menschen und die Wände der Universität um dich herum gibt, motiviert das zum Lernen. Mit dem Online-Studium verhält es sich ganz anders – obwohl du eigentlich Philosophie ganz spannend findest, sagt eine innere Stimme, dass es wichtigere Dinge gibt", so Anton. Es sei schwierig, eine Motivation fürs Studium zu finden, wenn man nicht weiß, wie lange man noch zu leben hat. Außerdem: "Wenn man zehn Stunden am Tag jobben muss, um eine Mietwohnung im Exil zu bezahlen, hat man keine Zeit für die Diplomarbeit", sagt Anton, der nach Kriegsbeginn einige Monate im westukrainischen Lwiw war, inzwischen aber wieder in Charkiw lebt. Nur die seltenen Treffen mit Kommilitonen gäben Anton Kraft – ein echter Luxus in Kriegszeiten.

Patrioten schreiben sich in Charkiw ein

Trotz der schwierigen Bedingungen ist das Interesse am Studium an der vom Krieg so schwer geplagten Hochschule relativ groß, auch wenn die Zahl der Erstsemester 2022 um 40 Prozent zurückging, berichtet Sachartschenko, der auch Mitglied der Aufnahmekommission der Uni ist. Die Gründe laut Sachartschenko: Zum einen hat die Uni Charkiw gute Noten in ukrainischen Hochschulrankings zum anderen schrieben sich manche auch aus patriotischen Gründen ein.

Universitätsmarsch auf dem größten Platz Europas, dem Svobody-Platz.
Erinnerung an Friedenszeiten: Universitätsparade am Tag des Wissens am 1. September 2021 Bildrechte: imago images/Vitalii Kliuiev

Fakt ist: Vor dem Krieg gehörte die Hochschullandschaft fest zu Charkiw. Manche glauben sogar, dass Charkiw ohne die Universität nie zu einer Metropole, einem Zentrum der Wissenschaft, Kultur und Industrie hätte werden können – und dass sie auch nach dem Krieg eine enorme Rolle bei der Weiterentwicklung der Stadt spielen werde.

Ausländische VIPs helfen der Uni

Da stimmt es positiv, dass auch die Weltgemeinschaft Charkiw und seine traditionsreichste Universität nicht vergessen hat. Ausländische Prominente bieten hier regelmäßig und kostenlos Online-Vorlesungen an. So sprach etwa der britische Schauspieler Hugh Bonneville ("Paddington", "Downton Abbey II") vor den Studenten und am 12. April war der französische Schauspieler und César-Preisträger Philippe Torreton dran. "Mit euch unter russischem Raketenbeschuss über Literatur zu sprechen, ist mir eine Ehre und die wichtigste Mission meines Lebens", sagte er.

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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Brisant | 13. Februar 2023 | 17:15 Uhr

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