Debatte Schafft die Ukraine das Bargeld ab?
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13. Juli 2023, 17:52 Uhr
Das Team von Präsident Wolodymyr Selenskyj will aus der Ukraine die erste Cashless-Wirtschaft der Welt machen. Die völlige Abschaffung des Bargeldes ist zwar in absehbarer Zeit unrealistisch, aber das stark digitalisierte Land bewegt sich ohnehin in diese Richtung. Die Realitäten des russischen Angriffskrieges haben jedoch mögliche Grenzen eines Lebens ohne Bargeld aufgezeigt.
Es ist eine höchst ungewöhnliche Debatte für ein Land mitten im Verteidigungskrieg gegen Russland: Seit Wochen wird in der Ukraine über die Abschaffung des Bargeldes diskutiert – vor allem als Mittel der Korruptionsbekämpfung. Die Idee schlägt deswegen besonders hohe Wellen, weil sie direkt aus dem Büro von Präsident Selenskyj stammt. "Wir denken sehr ernst darüber nach. Wir wollen die erste Cashless-Wirtschaft der Welt werden", betonte Rostislaw Schurma, stellvertretender Chef der Präsidialverwaltung, auf der jüngsten Ukraine-Wiederaufbaukonferenz in London. "So könnten wir 95 bis 99 Prozent der Korruptionsfälle erfolgreich verhindern."
Die Nationalbank ist skeptisch
In den nächsten Monaten soll nun ein Plan erarbeitet werden, der zeigen soll, ob die Ukraine tatsächlich diesen Weg gehen kann und welche Schritte zunächst umgesetzt werden müssten. Die ukrainische Nationalbank hält den Verzicht auf Bargeld für technisch realisierbar und setzt sich dafür ein, Bargeld-Zahlungen zu verringern. Einer kompletten Abschaffung steht sie aber noch skeptisch gegenüber.
"Ich kenne kein Land der Welt, das vollständig auf Bargeld verzichtet hat. Selbst in den hochentwickelten europäischen Ländern ist noch eine gewisse Menge von Bargeld im Umlauf", betont Jekaterina Roschkowa, erste Stellvertreterin des Chefs der Nationalbank. In sozialen Netzwerken sorgte der Vorstoß von Schurma für sehr unterschiedliche Reaktionen – von Begeisterung bis hin zu Wut wegen der potenziell deutlich verstärkten Kontrolle durch den Staat.
Die Ukraine als digitaler Vorreiter
Gerade in Zeiten des russischen Angriffskrieges ist klar, dass der vollständige Umstieg auf bargeldlose Zahlungen in der Ukraine weder morgen noch übermorgen erfolgen wird. Gesetzt ist aber, dass sich die Ukraine grundsätzlich in diese Richtung entwickeln wird. Denn zum einen ist das osteuropäische Land ohnehin einer der Vorreiter in Sachen Digitalisierung: Strafen oder Steuern zahlen, einen neuen Führerschein beantragen, ein Einzelunternehmen registrieren oder an die ukrainische Armee spenden – all das geht inzwischen mit ein paar Klicks in der staatlichen Dienstleistungs-App. Mit Karte zahlen ist selbst in kleinen Kiosken auf dem Land meist kein Problem. Zudem verpflichtet sich die Ukraine im Rahmen ihrer EU-Beitrittsbestrebungen zu größtmöglicher Transparenz im Bankensystem.
Kartenzahlung im Krieg
Trotzdem gibt es – abgesehen von der wohl nötigen Anpassung der ukrainischen Verfassung – eine Menge praktischer Probleme mit dem Vorhaben des Selenskyj-Büros. Einige davon hat der Krieg offenbart. Nach dem Chaos der ersten Tage nach dem russischen Angriff am 24. Februar 2022, als alle zu den Geldautomaten rannten und niemand die Lage überblickte, haben sich bargeldlose Zahlungen auf dem von der Regierung in Kiew kontrollierten Gebiet zunächst als nützlich erwiesen. Denn bei weitem nicht überall konnten die Automaten rechtzeitig neu aufgefüllt werden.
Doch nachdem Russland dann am 10. Oktober 2022 mit den gezielten Angriffen auf die Energieinfrastruktur der Ukraine begann und auch in Kiew im Winter ganze Stadtteile für drei bis vier Tage ohne Strom, Mobilfunk und Internet bleiben mussten, wurden den Kartenzahlungen ihre natürlichen Grenzen aufgezeigt. Zwar passten sich viele Bankfilialen, Geschäfte und Restaurants mit der Zeit an die damalige Realität an, etwa mit Generatoren und Starlink-Terminals. Doch bis in einer Stadt wie Kiew, die mehr als drei Millionen Einwohner hat, eine bargeldlose Zahlung jederzeit und überall möglich ist, wird es wohl noch etwas dauern.
Viele Ukrainer ohne Konto
Darüber hinaus gibt es weitere Schwierigkeiten. Nach Einschätzungen von MasterCard hatten in der Ukraine Anfang 2020 noch 37 Prozent der Erwachsenen kein Bankkonto. Diese Zahl dürfte sich seitdem zwar deutlich verringert haben, ein bedeutender Anteil an Menschen ohne Bankkonto wird aber sicher geblieben sein.
Außerdem erlaubt es die aktuelle Gesetzgebung ukrainischen Banken, potentiellen Kunden ohne Angabe von Gründen die Eröffnung eines Kontos und andere Dienstleistungen zu verweigern. Und: Die Effektivität der Bargeld-Abschaffung für die Korruptionsbekämpfung dürfte mit Blick auf Kryptowährungen sowieso kleiner ausfallen, als vom Präsidentenbüro in Kiew erhofft.
Gleichzeitig zeigt eine Statistik der Nationalbank, dass der Anteil der bargeldlosen Zahlungen steigt. So wurden zwischen Mai und Dezember 2022 69 Prozent der Zahlungen ohne Bargeld abgewickelt. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es lediglich 60 Prozent. Und: Unter allen Transaktionen mit Karten sind aktuell lediglich 41 Prozent Bargeld-Abhebungen. Der Trend zur Bargeldlosigkeit ist also da – trotz des Krieges, und auch ohne dass die Regierung etwas unternommen hat.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 28. Juni 2023 | 07:15 Uhr