Viola Michaelis übt mit Aaron Christopher eine Nocturne von Chopin.
Aaron Christopher hat inzwischen so viel Gefallen am Klavierspielen gefunden, dass er gerne Musik studieren würde. Bildrechte: MDR/Sophie Hartmann

Musik "Ohne Berührung geht es nicht": Wie blinde Menschen in Weimar Klavierspielen lernen

29. August 2024, 15:40 Uhr

Seit fast 30 Jahren gibt Viola Michaelis in Weimar Klavierunterricht für Blinde. Mit ihren Methoden ist sie zu einer gefragten Expertin geworden, versorgt auch angehende Instrumentalpädagogen mit ihrem Wissen. Ihre wichtigste Erkenntnis: Musik machen bedeutet, nicht sehen, sondern vor allem spüren zu können.

Für Viola Michaelis ist es der erste Unterrichtstag nach den Sommerferien. Diese Woche hat sie 13 Klavierschüler, die Hälfte davon sind sehbeeinträchtigt. Vor 28 Jahren hatte Viola Michaelis ihre erste blinde Klavierschülerin. "Warum sollte der Unterricht mit einem blinden Menschen grundlegend anders sein?", hatte sie damals gedacht und die Herausforderung gerne angenommen.

Tatsächlich musste Viola Michaelis feststellen, dass einiges anders war. Ihre Lehrgewohnheiten habe sie fast vollständig umstellen müssen. Heute ist sie eine anerkannte Spezialistin auf dem Gebiet - und davon profitieren auch ihre sehenden Schüler.

Lehrerin und Schülerin profitieren vom Unterricht

An diesem Abend geht Viola Michaelis zu einer privaten Unterrichtsstunde in die Wohnung ihrer ältesten Schülerin, Sinje Steinecke. Zur Begrüßung gibt's von der 38-Jährigen eine Umarmung und ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk für die Klavierlehrerin. Während der fast acht Jahre ihres gemeinsamen Klavierunterrichts haben die Frauen eine freundschaftliche Bindung aufgebaut.

Sinje spricht gerne von "Zusammenarbeit" statt von Unterricht. "Wir profitieren ja auf beiden Seiten voneinander." Viola Michaelis stimmt zu. Auch für sie sei es ein stetiges Lernen. Durch die Rückmeldungen ihrer Schüler entwickle sie ihre Lehrmethoden immer weiter.

Die erwachsene Schülerin Sinje Steinecke übt mit ihrer Lehrerin Viola Michaelis am Klavier.
Sinje Steinecke wird seit acht Jahren von der Blinden-Klavierlehrerin unterrichtet. Bildrechte: MDR/Sophie Hartmann

Für die erste Stunde nach den Ferien nehmen sich Sinje Steinecke und Viola Michaelis ein Stück vor, das beide bereits gut kennen. Als Erinnerungshilfe singt Viola Michaelis die Melodie vor, Sinje spielt sie auf dem Klavier nach. Das Singen sei eigentlich die Grundlage für alles andere, erklärt die Lehrerin. Dadurch lasse sich die Musik leichter nachvollziehen und verinnerlichen, bevor sie ans Piano übertragen wird.

Außerdem sei Singen essentiell bei der Gehörbildung. Ihre Nicht-Sehenden Schüler, so Michaelis, hätten viel häufiger ein sogenanntes Absolutes Gehör. Sie können Töne ohne einen weiteren Referenzton sofort korrekt erkennen und benennen.

Ein sehender Schüler würde hinsehen und das Gesehene spiegeln. Ein blinder Schüler muss es spüren.

Klavierschülerin Sinje Steinecke

Körperkontakt unterstützt Lerneffekt

Wenn Sinje Steinecke einen Ton nicht findet, führt Viola Michaelis vorsichtig ihre Hand oder den ganzen Arm an die richtige Stelle auf der Klaviatur. Manchmal stellt sich die Lehrerin dafür auch direkt hinter ihre Schüler und unterstützt die Bewegung der Arme oder des Rumpfs. "Das ist unheimlich wertvoll, um sich an die Bewegungsabläufe zu erinnern", sagt Schülerin Sinje. "Ein sehender Schüler würde hinsehen und das Gesehene spiegeln. Ein blinder Schüler muss es spüren."

Auch Lehrerin Viola Michaelis ist überzeugt: "Ohne körperliche Berührung funktioniert der Unterricht nicht." Deshalb sei es so wichtig, dass auf beiden Seiten großes Vertrauen herrscht.

Musik soll vor allem für Zufriedenheit und Ausgleich sorgen

Am stärksten ist das wohl mit ihrem langjährigen Schüler Aaron Christopher Hoffmann. Er kommt zum Unterricht zu Viola Michaelis nach Hause. Nach all den Jahren muss er nicht mehr zum Flügel im Wohnzimmer geführt werden, der 19-Jährige weiß genau, wo er steht. Mit zweieinhalb Jahren spielte Aaron Christopher seine ersten Töne auf dem Klavier. Seit er fünf ist, wird er von Viola Michaelis unterrichtet. Die 88 schwarzen und weißen Tasten des Klaviers sind für ihn mittlerweile mehr als nur ein Hobby.

Viola Michaelis übt mit Aaron Christopher eine Nocturne von Chopin.
Seit Aaron fünf Jahre alt ist, unterrichtet Viola Michaelis ihn schon. Bildrechte: MDR/Sophie Hartmann

"Mit der Zeit habe ich gemerkt, dass die Musik immer mehr Bedeutung in meinem Leben gewonnen hat und ich das weiter vertiefen will", sagt er. Sein großes Ziel: ein Musikstudium. Im Oktober will er die ersten Bewerbungen losschicken. Lehrerin Viola Michaelis ist sichtlich stolz auf ihren Schützling. Dass es ein Schüler so weit bringt, ist für sie ein willkommener Nebeneffekt. Erfolg definiert sie aber vor allem dadurch, dass sie ihren Schülern durch die Musik einen persönlichen Ausgleich oder einfach emotionale Zufriedenheit geben kann.

Schüler nutzen Noten in Braille-Schrift

Aaron Christopher spielt eine Nocturne von Frédéric Chopin an. An diesem Stück arbeitet der 19-Jährige seit etwa einem Jahr. So viel Zeit brauche er, um die komplexe Melodie auswendig zu lernen. Wenn er ein neues Stück bekommt, übt er zunächst mit Audioaufnahmen, die ihm Viola Michaelis aufs Handy schickt. Zukünftig solle er sich die Musik aber mehr und mehr über Notenblätter aneignen, gibt seine Lehrerin lächelnd zu bedenken. Bisher scheut sich Aaron Christopher noch etwas davor.

Noten in Braille-Musikschrift funktionieren ähnlich, wie die normale Braille-Schrift. Jedoch repräsentieren die bis zu sechs Punkte statt Buchstaben und Satzzeichen musikalische Symbole wie Noten, Rhythmus und Oktavlagen. Mit den vier oberen Punkten wird etwa die Tonhöhe angegeben, die zwei unteren Punkten lassen erkennen, ob es sich beispielsweise um eine Achtel- oder Viertelnote handelt. Für ihren Unterricht hat sich Viola Michaelis das komplexe Musikschrift-System in mühevoller Arbeit selbst beigebracht.

Noten zu Musikstücken werden auch in Blindenschrift verfasst.
Notenblätter für blinde Menschen sind mit Braille-Schrift bedruckt. Bildrechte: MDR/Sophie Hartmann

Ihr Wissen gibt sie auch an angehende Klavierlehrer weiter. Seit 2011 leitet Viola Michaelis ein "Blindenprojekt" an der Hochschule für Musik in Weimar. Dort betreut sie ein Spezialseminar, das Studierende der Instrumentalpädagogik befähigt, mit Blinden und Sehbeeinträchtigten zu arbeiten. Regelmäßig hospitieren die Studierenden auch in ihrem Unterricht.

In diesem Jahr feiert das Projekt bereits sein 15-jähriges Bestehen. Viola Michaelis und ihre Expertise sind in ganz Deutschland gefragt. Bis heute hat sie rund 30 sehbeeinträchtigten Schülern das Klavierspiel beigebracht.

Auch bei sehenden Schülern: Tasten per Gehör statt visuell finden

Durch ihre jahrelange Erfahrung habe sich auch der Unterricht mit ihren sehenden Schülern verändert, erzählt die Klavierlehrerin. "Man verfällt im Unterricht mit Sehenden viel zu schnell in die Gewohnheit, dass man zu viel visuell zeigt. Dabei sollten die Schüler dazu angehalten werden, die Taste über ihr Gehör zu finden."

Das Sehen oder Nicht-Sehen sollte uns davon nicht abhalten [Musik zu erleben].

Klavierlehrerin Viola Michaelis

Außerdem sei sie mehr und mehr dazu übergegangen, Bewegungen nicht mehr mit Worten zu erklären, sondern sie physisch erleben zu lassen. In der ersten Unterrichtsstunde müssen ihre Schüler zunächst die Klaviatur ertasten, bevor sie einen Ton darauf spielen. Oft lässt Viola Michaelis ihre Schüler die Stücke mit geschlossenen Augen spielen. "In allererster Linie geht es ums Erleben der Musik. Das Sehen oder Nicht-Sehen sollte uns davon nicht abhalten", ist sie sich sicher.

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MDR (ost)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Fazit vom Tag | 30. August 2024 | 18:00 Uhr

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