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Mit der Komödie "Kurz & nackig" haben Regisseur Jan Neumann und Ensemble ein Stück über das Wunder der Geburt und die Widersprüchlichkeiten des Lebens auf die Bühne des Deutschen Nationaltheaters Weimar gebracht.

MDR KULTUR - Das Radio Mo 16.10.2023 08:40Uhr 07:28 min

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Komödie "Kurz & nackig" am DNT: Vom Beginn und Sinn des Lebens

16. Oktober 2023, 14:08 Uhr

Nach der erfolgreichen Stückentwicklung "Sensemann & Söhne" 2020 legt das Deutsche Nationaltheater Weimar jetzt mit "Kurz & nackig" nach. Die Komödie von Hausregisseur Jan Neumann und seinem Ensemble ist in Zusammenarbeit mit dem Staatstheater Mainz entstanden und erzählt vom Wunder der Geburt und den Widersprüchlichkeiten des Lebens zwischen "Glücksmomenten" und "absoluter Überforderung". Ein auf mehreren Ebenen gelungener Theaterabend, findet unser Kritiker.

Stefan Petraschewsky, MDR KULTUR-Theaterredakteur
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Lia ist schwanger, besucht die Eltern, um es ihnen zu sagen, hat sich dazu als Storch verkleidet, aber vor allem hat sie Angst. Angst, dass sie dem nicht gewachsen sei, Angst "dass ich mehr verliere, als dass was dazu kommt." Die Welt, die "nicht rosig" aussehe, die verlorene eigene Freiheit. Papa Bernd entgegnet: "Wenn ich mich das alles vorher gefragt hätte, oder deine Mutter, dann wärst du gar nicht da." Das "Wunder der Geburt" – es ist wohl ein ewiger Kampf über die Generationen hinweg.

Tod und Geburt – Regisseur Jan Neumann thematisiert gesellschaftliche Tabus

Schon einmal, 2020, hat Jan Neumann mit seinem Ensemble ein Stück entwickelt, Titel: "Sensemann & Söhne", es ging damals um den Tod und das Sterben. Zusammengenommen mit "Kurz & nackig" ist es jetzt also wie eine Klammer: das Leben vom Ende und jetzt vom Anfang aus betrachtet. Bei "Sensemann & Söhne" waren es die großen philosophischen und wirtschaftlichen Fragen: Was bleibt von uns? Was ist der Sinn des Lebens? Was ist, wenn das Beerdigungsinstitut in nächster Generation von der Tochter weitergeführt wird – heißt es dann "Sensemann & Töchter"? Thema waren aber auch ganz banale Dinge, Fragen wie: Leichenschmaus im Edelrestaurant oder doch lieber beim Lieblingsgriechen des Verstorbenen? Das war alles unterhaltsam.

Jetzt bei "Kurz & nackig" ist es die gleiche Arbeitsweise. Im Programmheft lesen wir aus einem Probentagebuch, dass da zunächst fachlicher Rat bei Hebammen und Gynäkologen gesucht wurde; das Ensemble besuchte auch einen Geburtsvorbereitungskurs, schöpfte aus den eigenen Biografien. Das Ergebnis ist auch hier wieder ein stimmiger Text, der im Hier und Heute spielt.

"Kurz & nackig" beschäftigt sich mit Grundfragen unserer Existenz

Handlungstechnisch ist es ein Drei-Generationen-Stück: Da ist das Ehepaar Bergemann, Bernd und Kerstin, kurz vor dem Rentenalter. Beide stammen aus dem Osten, haben zur Wendezeit in Leipzig gelebt, sind dann in den Westen gezogen, haben sich irgendwann ein Einfamilienhaus in Mainz gebaut, haben drei Töchter bekommen: die Zwillinge Jule und Anne und Lia, das Nesthäkchen.

Jule ist mit Arne verheiratet; sie haben vier Kinder und haben auch alles durch, was an Kindererziehung so angesagt war und ist. Anne hat keine Kinder, weil lesbisch; sie ist Immobilienentwicklerin und fährt auch im Winter ein Mercedes-Cabrio. Lia, die Jüngste, profiliert sich gerade als Filmemacherin, plant einen Episodenfilm über Hebammen "von der Antike bis in die Gegenwart"; Freund Tom studiert noch, will Pilot werden. Und dann ist Lia plötzlich schwanger, so beginnt das Stück, wir sehen einen Tanz der Spermien um eine Eizelle.

Nach diesem Prolog folgen die drei Szenen des eigentlichen Stücks: Sie spielen an Ostern, im September, zu Weihnachten. Die drei Töchter sind samt Partnern und Kindern immer zu Besuch bei den Eltern. Lia erzählt, dass sie schwanger ist und stellt Tom, den Vater vor, der dann auch gleich von Arne aufgeklärt wird, wie so eine Geburt wird, von Dammriss bis Käseschmiere – das ist witzig, wenn derlei hier von Mann zu Mann erzählt wird.

Die zweite Szene spielt im September: Kindergeburtstag; der soll natürlich genau so toll sein wie bei den Freunden, also Kostümparty; viel geht dabei dann drunter und drüber. Die dritte und letzte Szene dann Heiligabend. Und wie es der Zufall will, bekommt Lia unterm Tannenbaum das Kind, ungeplante Hausgeburt. Guntram, der Junge, ist im Epilog dann 17 Jahre alt, im Jahr 2039, Nachbarstochter Mia kommt vorbei, erster Sex, wieder ein Tanz der Spermien um die Eizelle, und die Geschichte geht von vorne los.

Ein Weihnachtsmärchen für Erwachsene, das Spaß macht und Hoffnung gibt.

Stefan Petraschewsky, MDR KULTUR-Theaterredakteur

Reflexion über die Widersprüche des Lebens

Zwischen den drei Szenen gibt es zwei Monologe. Da wird es ernst: Großmutter Kerstin spricht von ihrer Fehlgeburt und meint auch ihr Scheitern im Westen, weil sie als Frau keine Chance mehr hatte, in ihren Beruf als Modedesignerin wieder einzusteigen, während Ehemann Bernd sich als Architekt mit eigenem Büro verwirklichen konnte.

Im zweiten Monolog erzählt Anne über sich selbst, übrigens in der dritten Person, also mit viel Distanz, wie sie sich am Heiligabend immer wieder aufmacht, um sich quasi schätzen zu lassen – aufmacht in das Heilige Land, in die Stadt Mainz, mit dem schicken Cabrio, aber frustriert, lustlos, weil sie Weihnachten hasst, dieses "aus hohler Tradition verordnete heteronormative Familienfest".

Anne wird keine Kinder haben, das ist bitter und sehr gut von Nadja Robiné gespielt; da ist viel Zeitkritik in dem Text, den die Schauspieler generell betrachtet aber zu sehr beiseite legen – vielleicht legen müssen, um vor allem schnell und witzig zu sein, sprich: die Komödie zu bedienen. Da wird leider auch Potenzial verschenkt.

Auch hier, wenn Arne seinen Schwiegervater fragt, ob sie nicht tauschen wollen: das Einfamilienhaus mit drei verwaisten Kinderzimmern, das kaum noch genutzt wird – getauscht gegen die 80-Quadratmeter-Wohnung, die sich Arne mit Jule und den vier Kindern teilen, Stichwort: Wohnungsnot. Es ist wirklich ein exzellentes Zeitstück mit genau gezeichneten Figuren und Tiefe.

Gut gelöst ist das Bühnenbild. Wir sehen ein Baugerüst, das mit Stoffbahnen abgehängt ist. Stoff, das steht natürlich auch für Kerstin, die Modedesignerin, die es nicht werden durfte. Das Baugerüst, das steht für den Architekten Bernd, aber alles zusammen heißt und bedeutet wohl auch, dass das Leben eine Baustelle ist – also ein gut durchdachtes, abstrahiertes Setting.

Dazu Kostüme, die einerseits ganz konkret den Alltag der jeweiligen Figur anzeigen, dann aber auch die Figuren beim Kostümfest klischeehaft überzeichnen – gut gemacht!

Gelungene Koproduktion mit dem Staatstheater Mainz

Mir hat noch eine zweite Ebene gut gefallen: Wir reden viel von Spaltung der Gesellschaft und wünschen uns mehr Miteinander und Toleranz. Hier ist die ganze Inszenierung eine Kooperation von Nationaltheater Weimar mit dem Staatstheater Mainz. Das halbe Ensemble kommt aus dem Westen, die andere Hälfte aus dem Osten. Gemeinsam wird am Text geschrieben und geprobt, und trotz aller Probleme, die hier verhandelt werden, gibt es diesen gemeinsamen Moment: eine Geburt, die alles andere relativiert.

Diese Sichtweise, die immer noch vorhandene Fähigkeit, das wirklich Wichtige zu sehen, das hat sich auch, man merkt es an den Reaktionen, dem Publikum mitgeteilt! Unterm Strich: ein Weihnachtsmärchen für Erwachsene, das Spaß macht und Hoffnung gibt.

Weiterführende Informationen "Kurz & nackig"
Komödie von Jan Neumann und Ensemble
Koproduktion Deutsches Nationaltheater Weimar / Staatstheater Mainz

Regie: Jan Neumann
Bühne: Matthias Werner
Kostüme: Nini von Selzam
Musik: Johannes Winde
Dramaturgie: Beate Seidel, Jörg Vorhaben
Mit: Andrea Quirbach, Sebastian Kowski, Rosa Falkenhagen, Nadja Robiné, Henner Momann, David T. Meyer

Weitere Termine: 28.10.2023, 01.12.2023, 22.12.2023, 28.01.2024

(Redaktionelle Bearbeitung: tmk)

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 16. Oktober 2023 | 08:40 Uhr

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