Große Aufsteller mit blauem Text auf weißem Hintergrund und blau-roten Illustrationen stehen in einer Ausstellung. 4 min
Bildrechte: Stiftung Ettersberg
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Jorge Semprún wurde vor 100 Jahren am 10. Dezember 1923 geboren. Seine Haft in Buchenwaldt hat er im Roman "Die große Reise" verarbeitet. Bernd Schekauski erinnert an den Schriftsteller, KZ-Überlebenden und Politiker.

MDR KULTUR - Das Radio Do 07.12.2023 12:00Uhr 04:18 min

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100. Geburtstag Erfurter Gedenkstätte würdigt KZ-Überlebenden Jorge Semprún

03. September 2024, 04:00 Uhr

Die Gedenkstätte Andreasstraße in Erfurt würdigt das Leben und Werk des Schriftstellers Jorge Semprún mit einer Ausstellung. Sie trägt den Titel "Ein europäisches Leben im 20. Jahrhundert". Im Zweiten Weltkrieg wurde der gebürtige Spanier nach Buchenwald deportiert und überlebte das Konzentrationslager. Verarbeitet hat er diese Zeit in literarischen Bildern und Gedanken, die bis heute nichts an Kraft verloren haben.

  • Jorge Semprún wäre vergangenes Jahr 100 Jahre alt geworden – sein Roman "Die große Reise" machte ihn zu einem bekannten Schriftsteller.
  • Sein Leben lang war der KZ-Überlebende ein Freiheitskämpfer, etwa im spanischen Untergrund gegen das Franco-Regime.
  • Politische Gleichgültigkeit sah er als eine der größten Gefahren für Europa.

Die Gedenkstätte Andreasstraße in Erfurt erinnert ab Dienstag, 3. September mit einer Sonderausstellung an den KZ-Überlebenden und späteren Autor Jorge Semprún. Die Wanderausstellung wurde anlässlich des 100. Geburtstages Semprúns am 10. Dezember 2023 entwickelt und war bereits an verschiedenen Orten zu sehen, darunter die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar. Der Autor, der 2011 in Paris starb, wurde vor allem durch die literarische Verarbeitung seiner Zeit im Konzentrationslager Buchenwald bekannt.

Besucherinnen betrachten Informationsmaterial der Ausstellung
Besucherinnen in der Wanderausstellung zu Jorge Semprún "Ein europäisches Leben im 20. Jahrhundert" Bildrechte: Stiftung Ettersberg

Erzählungen über das KZ Buchenwald

Wer "Die Große Reise" liest, dem legen sich Sempruns Erinnerungen aufs Lebendigste über Ansichten von Buchenwald heute: Da meint man SS-Wachen mit ihren Knüppeln auf dem Caracho-Weg zu sehen, geschundene Häftlinge auf dem Appell-Platz in eisigem Regen, Rauch über dem Krematorium.

Dabei wollte Semprún gar nicht so sehr literarische Klage-Bilder malen. Denn schon in den ersten Nachkriegs-Jahren hatte er erkannt: Was Menschen in Friedens-Zeiten Unbehagen bereitet, wird von ihnen gerne ausgeblendet. So meint Semprún in seiner "Großen Reise" mit offenkundig bitterer Ironie: "Wenn ich anfinge, diese Reise in all ihren Einzelheiten zu erzählen, die Leute um mich herum vor Langeweile vergehen, sterben, sachte in ihren Sitzen zusammensinken und in den Tod wie in den träge fließenden Strom meiner Erzählungen sinken würden."

Bücher in einer Ausstellung, in der Mitte ein Buch im weißen Einband mit der Aufschrift "Jorge Semprún: Was für ein schöner Sonntag!"
Bücher von und über Jorge Semprún aus den Beständen der Herzogin Anna Amalia Bibliothek ergänzen die Ausstellung, eine kleine Freihandbibliothek lädt zur Lektüre ein. Bildrechte: Stiftung Ettersberg

Aber natürlich konnte und mochte Semprún seine Leser nicht davonkommen lassen, ohne Einzelheiten aus seiner Zeit in Buchenwald genauer zu beschreiben. Doch seine Deportation dorthin, 1943 in einem Viehwaggon aus Frankreich, wo er bis dahin in der Résistance gegen die Nazis kämpfte, diese "Reise" war Semprún vor allem Metapher.

Ich bin gefangen, weil ich ein freier Mensch bin.

Jorge Semprún "Die große Reise"

Und es war zugleich literarischer Rahmen für ein Nachdenken darüber, was eigentlich essentiell sei in der "Großen Reise" des Lebens eines jeden Menschen. Würde etwa. Und Freiheit. In diesem Nachdenken sah der Geschundene in Buchenwald gegen seine Wächter unmissverständlich wie der moralisch Überlegene aus, wie er in der "Großen Reise" sinnierte: "Ich bin gefangen, weil ich ein freier Mensch bin, weil ich mich gezwungen sah, meine Freiheit zu leben, weil ich diesen Zwang auf mich genommen habe. Und ebenso gibt es nur eine einzige Antwort auf die zweite Frage: 'Warum sind Sie hier?', die ich an jenem Oktobertag dem deutschen Wachtposten gestellt habe […] Er ist hier, weil er nirgends sonst ist, weil er nicht die Notwendigkeit empfunden hat, anderswo zu sein. Weil er nicht frei ist."

Ein Leben für den Kampf um Freiheit und Würde

Dem Kampf für menschliche Würde und für Freiheit verpflichtet bleibt Semprún sein Leben lang. Er kämpft im Untergrund mit den spanischen Kommunisten gegen Franco, liegt dann mit den Stalinisten in der Partei aber so über Kreuz, dass er aus der KP ausgeschlossen wird. Als Spanien die Franco-Diktatur überwunden und Jahre später die EU-Mitgliedschaft erlangt hat, wird Semprún von den nun regierenden Sozialisten zum Kulturminister berufen.

Ein älterer Mann mit weißem Haar hebt gestikulierend den rechten Zeigefinger.
1988 wird der Schriftsteller Jorge Semprún sogar Kulturminister Spaniens. Bildrechte: IMAGO / Plusphoto

Doch ausgerechnet die politische Linke, der er stets so nahe war, sieht er am Ende seines Lebensweges im Niedergang: "Woher kommt diese Krise?", fragt er nach einer Europa-Wahl in einem seiner letzten Interviews, und weiter: "Man sollte ja vermuten, dass in Zeiten, da das kapitalistische System in einer Krise steckt, die Sozialdemokratie wieder in den Vordergrund rückt – und mit ihr eine Option für mehr Gerechtigkeit, für mehr sozialen Ausgleich. Doch jetzt, wo man diese Option am dringendsten bräuchte, verblasst sie immer mehr. Dieses Phänomen wird sicherlich große historische Auswirkungen haben, nur ist noch unklar, wohin genau das führen wird."

Ein europäischer Erinnerer

"Was es heißt, Europäer zu sein", so lautet der Titel eines der letzten Bücher Semprúns. Darin heißt es, die größte Gefahr für Europa sei Überdruss. Diese These greift er 2008 noch einmal auf: "Diese Gefahr spiegelt sich etwa darin, dass wir der europäischen Jugend kein Projekt der Ideale anzubieten haben. Wir bieten ihr zwar interessante praktische Dinge an – Erasmus-Stipendien, universitären Austausch, Reisen –, aber das ist eher etwas Pragmatisch-Alltägliches. Was fehlt, ist ein übergreifendes Gemeinschafts-Projekt: Wozu brauchen wir Europa? Was für Perspektiven zeichnen wir? Was bedeutet Europa?"

Man muss mehr zu bieten haben als Erasmus-Reisen!

Jorge Semprún

Verdruss, Enttäuschung, Gleichgültigkeit: Was an dieser Diagnose würde Semprún heute wohl ändern? Und was für ein Projekt würde er seinen politischen Erben zum Auftrag machen? Nur zu gerne hätte man sich mit diesem großen Mann darüber noch einmal unterhalten.

Ein älterer Mann mit weißem Haar und schwarzem Mantel steht an einem Rednerpult.
Jorge Semprún hält anlässlich des 65. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald eine Rede. Bildrechte: IMAGO / Karina Hessland

Jorge Semprún – Ein europäisches Leben im 20. Jahrhundert

Sonderausstellung der Stiftung Ettersberg in Kooperation mit der Klassik Stiftung Weimar

Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt
Andreasstraße 37a
99084 Erfurt

3. September 2024 bis 5. November 2024

Öffnungszeiten:
Dienstag: 12:00 - 20:00
Mittwoch: 10:00 - 18:00
Donnerstag: 12:00 - 20:00
Freitag: 10:00 - 18:00
Samstag: 10:00 - 18:00
Sonntag: 10:00 - 18:00

Die Ausstellung ist Teil der Veranstaltungsreihe "Jorge Semprún in Weimar. Zum 100. Geburtstag eines großen Europäers" der Stiftung Ettersberg in Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, der Klassik Stiftung Weimar, der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, dem Deutschen Nationaltheater und Staatskapelle Weimar, der Bauhaus-Universität Weimar und der Stadt Weimar.

Quellen: MDR KULTUR (Bernd Schekauski), epd, Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße Erfurt
Redaktionelle Bearbeitung: hro, bh

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 03. September 2024 | 06:30 Uhr

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