Ein Mann mit Bart sitzt singend auf einer Bühne. 7 min
In diesem Jahr bieten die Erfurter Domstufen-Festspielen eine opulente Aufführung des Musical-Klassikers "Anatevka". Marlene Drexler hat die Premiere für MDR KULTUR besucht. Bildrechte: Theater Erfurt, Foto: Lutz Edelhoff
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In diesem Jahr bieten die Erfurter Domstufen-Festspielen eine opulente Aufführung des Musical-Klassikers "Anatevka". Marlene Drexler hat die Premiere für MDR KULTUR besucht.

MDR KULTUR - Das Radio Sa 03.08.2024 17:00Uhr 07:27 min

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Kritik Domstufen-Festspiele Erfurt: Mit "Anatevka" auf Nummer sicher

03. August 2024, 17:26 Uhr

Am 2. August hat das Musical "Anatevka" bei den Erfurter Domstufen-Festspielen Premiere gefeiert – eines der berühmtesten Musicals der Welt. Bis zum 25. August sind viele weitere Vorstellungen geplant. Unsere Kritikerin hat das Stück gesehen und sich von der Musik berühren lassen – war aber nicht restlos überzeugt.

Letztes Jahr war die Bilanz der Erfurter Domstufen-Festspiele eher durchwachsen. Im Gegensatz zu den Vorjahren war mit "Fausts Verdammnis" von Hector Berlioz keine der Vorstellungen ausverkauft. Das Werk taugte offenbar nicht als Open-Air-Spektakel – zu unbekannt, zu sperrig. In diesem Jahr ist das Erfurter Theater auf Nummer sicher gegangen und zeigt den Kassenschlager "Anatevka".

Familienstück und gleichzeitig hochpolitisch

Die Vorlage zu dem beliebten Musical stammt vom jiddischsprachigen Schriftsteller Scholem Alejchem. Dialoge und Musik haben Joseph Stein und Jerry Bock beigesteuert. Uraufgeführt wurde "Anatevka" 1964 am New Yorker Broadway.

Mehrere Menschen auf einer Bühne.
Obwohl "Anatevka" sehr unterhaltsam klingt, hat es auch Tiefgang. Bildrechte: Theater Erfurt, Foto: Lutz Edelhoff

Schon damals kam das Stück sehr gut bei Kritik und Zuschauern an. Bis heute ist es auch in Europa unzählige Mal gespielt worden. Der Reiz liegt auch in der Vielschichtigkeit. Zum einen ist "Anatevka" ein Familienstück und liefert ganze universelle Anknüpfungspunkte. Zum anderen ist es ein hochpolitischer Stoff.

Traditionelle und moderne Lebensentwürfe im Konflikt

Die Handlung spielt 1905 in einem kleinen Ort mit dem Namen "Anatevka", der in der heutigen Ukraine liegt. Dort gibt es eine jüdische Gemeinde, zu der auch die Hauptfigur Tevje, der Milchmann, gehört. Er ist Vater von fünf Töchtern.

Drei Frauen in Kostümen sitzen auf einer Bühne, im Hintergrund ein überdimensionaler Küchenofen.
Auch die Liebe spielt eine große Rolle in dem Musical. Bildrechte: Theater Erfurt, Foto: Lutz Edelhoff

Die Familie ist arm, deshalb hat Tevje großes Interesse daran, gute Partien für seine Töchter zu finden. Während Tevje unheimlich traditionsbewusst ist, sind seine Töchter schon progressiver. Sie wollen nicht aus Tradition heiraten – sondern aus Liebe.

Der Fiedler auf dem Dach als Metapher

Im Original heißt Anatevka "Fiddler on the Roof", also "Der Geiger auf dem Dach". Und dieser Geiger taucht auch regelmäßig im Stück auf, spielt immer wieder die gleiche Melodie.

Protagonist Tevje erklärt dem Publikum direkt in der ersten Szene, was es damit auf sich hat. Auch wenn es verrückt klinge, so Tevje, seien die Jüdinnen und Juden in "Anatevka" alle Geiger auf dem Dach. Jeder versuche eine einschmeichelnde Melodie zu spielen, ohne sich dabei das Genick zu brechen.

Zwei Männer sitzen auf einer Band, einer spielt Violine.
Der Fiedler taucht immer wieder in dem Stück auf. Bildrechte: Theater Erfurt, Foto: Lutz Edelhoff

Der Geiger dient als Metapher, als Sinnbild für die Lebenssituation der Juden damals in den Dörfern Osteuropas. Denn sie wurden im russischen Zarenreich nur geduldet. Und später dann auch vertrieben. Der Geiger auf dem Dach und seine melancholische Melodie wird für Tevje und alle anderen jüdischen Menschen in "Anatevka" zum Vorboten für das düstere Ende der Geschichte.

Bühnenbild als Hingucker und viel Ohrwurm-Potenzial

Leif Erik Heine hat für die Aufführung ein originelles Bühnenbild geschaffen. Zentrales Element ist eine riesige Milchkanne, mehrere Meter lang und breit, die oben auf den Treppen liegt. Aus ihr ergießt sich ein Milchstrom, der wie eine Art großer weißer Teppich über die gesamten Stufen fließt. Das ist nicht nur optisch ein Hingucker, sondern setzt auch als Motiv der "verschütteten Milch" immer wieder verschiedene Assoziationen frei.

Die Bühne auf den Domstufen, im Hintergrund zwei Kirchen.
Die gewaltige Michkanne scheint ihren Inhalt auf die Domstufen in Erfurt zu vergießen. Bildrechte: MDR/Andreas Kehrer

Die Musik ist mal klassischer, mal ist sehr zu hören, dass Jerry Bock sich von jiddischer Klezmer-Musik hat inspirieren lassen. Nicht zuletzt dadurch entstehen immer wieder – trotz auch großer Tragik – heitere, temperamentvolle Momente. Und die Lieder, allen voran Tevjes "Wenn ich einmal reich wär", sorgen verlässlich für Ohrwürmer.

Einnehmende Musik, trotz Abwesenheit des Orchesters

Um diese Klänge zu spielen, müssen die Musikerinnen und Musiker auch ihre gewohnten Pfade verlassen. Bei "Anatevka" geht es nicht immer darum, Noten fein säuberlich zu spielen, sondern vor allem auch: ein Lebensgefühl zu transportieren.

Dem Erfurter Orchester gelingt das unter musikalischer Leitung von Clemens Fieguth. Obgleich das Orchester nicht vor Ort spielt, sondern aus dem Theater zugeschaltet ist.

Stringente Inszenierung, aber wenig Überraschungen

Die Regie von Ulrich Wiggers, der in den vergangenen Jahren einige Erfahrungen mit Open-Air-Produktionen gesammelt hat, ist stringent. Woran es aber fehlt, sind Überraschungsmomente. Das Meiste ist zu erwartbar, so dass die Geschichte ab der zweiten Spielhälfte an Spannung verliert, auserzählt wirkt.

Auch dass das Publikum zu weit von der Bühne entfernt ist, als dass Gesichter, geschweige denn Mimik des Ensembles erkennbar wären, erschwert es, das Interesse an den Figuren bis zum Ende aufrechtzuerhalten.

Trotzdem gibt der Abend Gelegenheit, sich von der Musik berühren zu lassen. Die besten Momente entstehen dann, wenn gefeiert und gesungen und getanzt wird. Das sind Gesamtkunstwerke, die mitreißend sind. Und eine Sehnsucht nach menschlicher Verbundenheit erwecken.

Menschen auf einer Bühne, zwei Frauen tanzen ausgelassen.
Schon die schwungvolle Musik macht die Aufführung zum Genuss. Bildrechte: Theater Erfurt, Foto: Lutz Edelhoff

Quelle: MDR KULTUR (Marlene Drexler), redaktionelle Bearbeitung: op

Mehr Informationen

"Anatevka" bei den Domstufen-Festspielen in Erfurt 2024
Musical
basierend auf den Geschichten von Scholem Alejchem
Buch: Joseph Stein
Musik: Jerry Bock

Musikalische Leitung: Clemens Fieguth
Inszenierung: Ulrich Wiggers
Bühne: Leif-Erik Heine
Kostüme: Jula Reindell
Videodesign: Bonko Karadjov

2. bis 25. August 2024

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 03. August 2024 | 10:10 Uhr

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