Kritik Domstufen-Festspiele Erfurt: Mit "Anatevka" auf Nummer sicher
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03. August 2024, 17:26 Uhr
Am 2. August hat das Musical "Anatevka" bei den Erfurter Domstufen-Festspielen Premiere gefeiert – eines der berühmtesten Musicals der Welt. Bis zum 25. August sind viele weitere Vorstellungen geplant. Unsere Kritikerin hat das Stück gesehen und sich von der Musik berühren lassen – war aber nicht restlos überzeugt.
- Das in Erfurt bei den Domstufen-Festspielen aufgeführte Stück "Anatevka" hatte 1964 Premiere am Broadway.
- Erzählt wird die Geschichte einer jüdischen Gemeinde in einem Dorf auf dem Gebiet der heutigen Ukraine.
- Beeindruckend sind bei der Inszenierung vor allem das Bühnenbild und die Musik mit Ohrwürmern wie "Wenn ich einmal reich wär".
Letztes Jahr war die Bilanz der Erfurter Domstufen-Festspiele eher durchwachsen. Im Gegensatz zu den Vorjahren war mit "Fausts Verdammnis" von Hector Berlioz keine der Vorstellungen ausverkauft. Das Werk taugte offenbar nicht als Open-Air-Spektakel – zu unbekannt, zu sperrig. In diesem Jahr ist das Erfurter Theater auf Nummer sicher gegangen und zeigt den Kassenschlager "Anatevka".
Familienstück und gleichzeitig hochpolitisch
Die Vorlage zu dem beliebten Musical stammt vom jiddischsprachigen Schriftsteller Scholem Alejchem. Dialoge und Musik haben Joseph Stein und Jerry Bock beigesteuert. Uraufgeführt wurde "Anatevka" 1964 am New Yorker Broadway.
Schon damals kam das Stück sehr gut bei Kritik und Zuschauern an. Bis heute ist es auch in Europa unzählige Mal gespielt worden. Der Reiz liegt auch in der Vielschichtigkeit. Zum einen ist "Anatevka" ein Familienstück und liefert ganze universelle Anknüpfungspunkte. Zum anderen ist es ein hochpolitischer Stoff.
Traditionelle und moderne Lebensentwürfe im Konflikt
Die Handlung spielt 1905 in einem kleinen Ort mit dem Namen "Anatevka", der in der heutigen Ukraine liegt. Dort gibt es eine jüdische Gemeinde, zu der auch die Hauptfigur Tevje, der Milchmann, gehört. Er ist Vater von fünf Töchtern.
Die Familie ist arm, deshalb hat Tevje großes Interesse daran, gute Partien für seine Töchter zu finden. Während Tevje unheimlich traditionsbewusst ist, sind seine Töchter schon progressiver. Sie wollen nicht aus Tradition heiraten – sondern aus Liebe.
Der Fiedler auf dem Dach als Metapher
Im Original heißt Anatevka "Fiddler on the Roof", also "Der Geiger auf dem Dach". Und dieser Geiger taucht auch regelmäßig im Stück auf, spielt immer wieder die gleiche Melodie.
Protagonist Tevje erklärt dem Publikum direkt in der ersten Szene, was es damit auf sich hat. Auch wenn es verrückt klinge, so Tevje, seien die Jüdinnen und Juden in "Anatevka" alle Geiger auf dem Dach. Jeder versuche eine einschmeichelnde Melodie zu spielen, ohne sich dabei das Genick zu brechen.
Der Geiger dient als Metapher, als Sinnbild für die Lebenssituation der Juden damals in den Dörfern Osteuropas. Denn sie wurden im russischen Zarenreich nur geduldet. Und später dann auch vertrieben. Der Geiger auf dem Dach und seine melancholische Melodie wird für Tevje und alle anderen jüdischen Menschen in "Anatevka" zum Vorboten für das düstere Ende der Geschichte.
Bühnenbild als Hingucker und viel Ohrwurm-Potenzial
Leif Erik Heine hat für die Aufführung ein originelles Bühnenbild geschaffen. Zentrales Element ist eine riesige Milchkanne, mehrere Meter lang und breit, die oben auf den Treppen liegt. Aus ihr ergießt sich ein Milchstrom, der wie eine Art großer weißer Teppich über die gesamten Stufen fließt. Das ist nicht nur optisch ein Hingucker, sondern setzt auch als Motiv der "verschütteten Milch" immer wieder verschiedene Assoziationen frei.
Die Musik ist mal klassischer, mal ist sehr zu hören, dass Jerry Bock sich von jiddischer Klezmer-Musik hat inspirieren lassen. Nicht zuletzt dadurch entstehen immer wieder – trotz auch großer Tragik – heitere, temperamentvolle Momente. Und die Lieder, allen voran Tevjes "Wenn ich einmal reich wär", sorgen verlässlich für Ohrwürmer.
Einnehmende Musik, trotz Abwesenheit des Orchesters
Um diese Klänge zu spielen, müssen die Musikerinnen und Musiker auch ihre gewohnten Pfade verlassen. Bei "Anatevka" geht es nicht immer darum, Noten fein säuberlich zu spielen, sondern vor allem auch: ein Lebensgefühl zu transportieren.
Dem Erfurter Orchester gelingt das unter musikalischer Leitung von Clemens Fieguth. Obgleich das Orchester nicht vor Ort spielt, sondern aus dem Theater zugeschaltet ist.
Stringente Inszenierung, aber wenig Überraschungen
Die Regie von Ulrich Wiggers, der in den vergangenen Jahren einige Erfahrungen mit Open-Air-Produktionen gesammelt hat, ist stringent. Woran es aber fehlt, sind Überraschungsmomente. Das Meiste ist zu erwartbar, so dass die Geschichte ab der zweiten Spielhälfte an Spannung verliert, auserzählt wirkt.
Auch dass das Publikum zu weit von der Bühne entfernt ist, als dass Gesichter, geschweige denn Mimik des Ensembles erkennbar wären, erschwert es, das Interesse an den Figuren bis zum Ende aufrechtzuerhalten.
Trotzdem gibt der Abend Gelegenheit, sich von der Musik berühren zu lassen. Die besten Momente entstehen dann, wenn gefeiert und gesungen und getanzt wird. Das sind Gesamtkunstwerke, die mitreißend sind. Und eine Sehnsucht nach menschlicher Verbundenheit erwecken.
Quelle: MDR KULTUR (Marlene Drexler), redaktionelle Bearbeitung: op
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"Anatevka" bei den Domstufen-Festspielen in Erfurt 2024
Musical
basierend auf den Geschichten von Scholem Alejchem
Buch: Joseph Stein
Musik: Jerry Bock
Musikalische Leitung: Clemens Fieguth
Inszenierung: Ulrich Wiggers
Bühne: Leif-Erik Heine
Kostüme: Jula Reindell
Videodesign: Bonko Karadjov
2. bis 25. August 2024
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 03. August 2024 | 10:10 Uhr