9. Oktober 1989 Ingo Schulze über letzte DDR-Jahre: Hatte das Gefühl, grundsätzlich etwas ändern zu können
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09. Oktober 2024, 03:30 Uhr
Der Schriftsteller Ingo Schulze hat zwei gesellschaftliche Systeme erlebt: die DDR und die BRD. Er schätzt die heutigen Gestaltungsmöglichkeiten. Trotzdem erinnert er die letzten Jahre der DDR als eine Zeit, in der die Zukunft offener gestaltbar war. Die Demokratie dieser Zeit sei, wenn auch manchmal unbeholfen, stärker von der Basis gekommen.
- Der Schriftsteller Ingo Schulze hatte 89/90 das Gefühl, dass große gesellschaftliche Veränderungen möglich gewesen wären.
- Als Mensch, der zwei Systeme erlebt habe, weiß er, dass die heutige Gesellschaft nicht selbstverständlich ist.
- Auch wenn Menschen unterschiedliche Erfahrungen gesammelt hätten, schaffe die Literatur Verständnismöglichkeiten.
Ingo Schulze ist Jahrgang 1962. Als 1989 die Demonstrationen in der DDR stattfanden, in deren Folge die Mauer fiel, war der Schriftsteller 26 Jahre alt. Wenn er heute auf die beiden Systeme DDR und BRD zurückblickt, stellt Schulze fest, dass er in der Zeit gegen Ende der DDR das Gefühl hatte, "wirklich grundsätzlich etwas ändern zu können", so Schulze im Gespräch mit dem MDR.
Es klingt paradox, aber ich hatte am Ende der DDR das Gefühl, wirklich grundsätzlich etwas ändern zu können.
Diese Freiräume habe er in den letzten Jahren der DDR auch im Alltag erlebt. Der Autor meint damit die Möglichkeit gesamtgesellschaftlicher Veränderungen und nicht nur den persönlichen Bereich. Schulze bezieht sich bei seiner Sicht auch auf das Gedicht "Das Eigentum" von Volker Braun, das mit den Zeilen endet: "Wann sag ich wieder mein und meine alle."
Wende war basisdemokratisch
Das Widersprüchliche an seiner Sicht ist Schulze bewusst. Daher betont der Schriftsteller, dass es natürlich auch heute viele Möglichkeiten gebe, etwas zu verändern. Sie seien sogar größer als damals, zum Beispiel in der Lokalpolitik. Schulze hebt aber auch hervor: "Man kann sich engagieren, man kann etwas verändern! Aber es ist so ein vorgegebener Rahmen. Ich sage das jetzt gar nicht polemisch."
Die Demokratie, die Schulze Ende 1989 und Anfang 1990 erlebt habe, sei eine Demokratie gewesen, die von der Basis her kam. Diese Demokratie sei auch unbeholfen gewesen, so Schulze, sei aber dennoch weder von Geld noch von Parteien-Hierarchien beeinflusst worden.
Man kann sich engagieren, man kann etwas verändern! Aber es ist so ein vorgegebener Rahmen. Ich sage das jetzt gar nicht polemisch.
Heutige Gesellschaft ist nicht selbstverständlich
In Gesprächen mit seiner 2004 geborenen Tochter falle Schulze auf, dass sie nur ein System kenne und dieses als selbstverständlich ansehe: "Ich habe das bei meiner Tochter gemerkt, die vor ein paar Tagen ganz ungläubig sagte, sie könne sich gar nicht vorstellen, dass es mal noch ein ganz anderes System gegeben habe."
Schulze habe jedoch die Erfahrung zwei verschiedener Systeme gemacht und weiß darum, dass die heutigen Selbstverständlichkeiten "eben nicht vom Himmel fallen oder naturgegeben sind." Diese Erfahrung habe nicht nur Ostdeutschland, sondern ganz Osteuropa gemacht.
Distanz ermöglicht andere Blickwinkel
Auch wenn er in den Jahren um 1989 und 1990 manche der neuen Spielregeln des dominierenden Westens naiv und aus einer gewissen Hilflosigkeit gesehen habe, sieht Schulze heute darin einen Vorteil, "gewisse Dinge mit einer größeren Distanz und Skepsis zu sehen."
Als Beispiel nennt er die Krankenversicherung, die er damals als neu erlebt habe. Schulze sagt: "Ich weiß noch, wie ich das erste Mal stutzte bei diesen Krankenkarten. Da ich damals Selbstständiger war, hatte ich eine Privatversicherung – und plötzlich musste ich da Geld zahlen! Ich fand das ziemlich abartig." Auch habe er zu DDR-Zeiten die Angst um die eigene materielle Existenz nicht erlebt.
Andererseits habe es neue Freiheiten gegeben – vom Cappuccino bis zur Reise nach Italien. Überhaupt seien die Erinnerungen an die damalige Zeit sehr durchmischt, sagt Schulze: Jeder habe "seine eigene Geschichte und auch ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht, was es auch erschwert, darüber zu reden."
Literatur baut Brücken des Verstehens
Schulze hebt hier die Rolle der Kunst als Ventil hervor: "Das ist ja vollkommen klar: Es gibt ganz unterschiedliche und einander widersprechende Erfahrung. Aber vielleicht gerade dafür gibt es Literatur oder überhaupt Kunst, weil da Erfahrungen nebeneinander bestehen bleiben." Während man bei einem Gespräch eindeutig sein müsse, sei das Leben mehrdeutig, nicht logisch, sondern widersprüchlich.
Die Literatur schaffe für die Leser die Möglichkeit, dass Widersprüche bestehen bleiben können. Sie sei so ein Instrument, um sich im eigenen Dasein ein bisschen besser zurechtzufinden, so Schulze. Und manchmal könne man über einen Witz in Kontakt zu Menschen zu kommen, um ihnen "Dinge zu erklären, die man allein im Gespräch oder wissenschaftlich nicht erklären kann."
Schulze hat sich auch selbst mit dem Umbrüchen in den Jahren 1989 und 1990 in zahlreichen Romanen beschäftigt, unter anderem in "Neue Leben" und "Adam und Evelyne."
Quelle: MDR (Andreas Berger)
Redaktionelle Bearbeitung: op, tis, bh
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Aufgefallen | 07. Oktober 2024 | 20:00 Uhr