Buch Ingo Schulze erkundet in "Zu Gast im Westen" den Ruhrpott
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19. April 2024, 08:30 Uhr
Der 1962 in Dresden geborene Schriftsteller Ingo Schulze war für sein neues Buch "Zu Gast im Westen" im Ruhrgebiet. Als Stadtschreiber hat er von Oktober 2022 bis März 2023 die Menschen und das Leben in dieser Region zwischen Dortmund, Essen und Duisburg erlebt. Schulze zeigt sich als aufmerksam beobachtender Reisender zwischen Ost und West. Entstanden sind spannende Reportagen, die zwischen zugewandter Betrachtung und verhaltenem Ostblick individuelle Perspektiven eröffnen.
- Der Schriftsteller Ingo Schulze war für ein halbes Jahr Stadtschreiber im Ruhrgebiet und hat seine Erfahrungen in dem Buch "Zu Gast im Westen. Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet" veröffentlicht.
- Er war dabei zurückhaltender Beobachter, brachte aber auch manchmal seine Ostexpertise ein.
- Schulze begegnete interessanten Menschen aus unterschiedlichsten Bereichen, vom Ex-Polizeipräsidenten bis zum ehemaligen Republikflüchtling.
Ein halbes Jahr mal aus dem eigenen Leben heraustreten. Nicht die üblichen, sondern ganz unbekannte Wege gehen, andere Menschen kennenlernen, denen man im eigenen Kiez nie begegnen würde und sich für Dinge interessieren, die im gewöhnlichen Alltag unbeachtet bleiben – ist es nicht ein Glück, wenn sich einem diese Gelegenheit auftut?
Der in Berlin lebende und aus Dresden stammende Ingo Schulze muss es genau so empfunden haben, als er vor anderthalb Jahren für sechs Monate von der Brost-Stiftung ins Ruhrgebiet eingeladen wurde. Der Plan: In der Stipendiatenwohnung in Mühlheim diszipliniert am entstehenden Roman arbeiten und nachmittags die unbekannte Region erkunden.
Schulze als Stadtschreiber im Ruhrgebiet
Das mit dem Roman ging natürlich schief. Zu viel gab es zu entdecken. Also nutzte Schulze das Privileg, als Stadtschreiber zugleich Ethnologe in fremden Gefilden sein zu dürfen, weidlich aus. Seine Methode: "Wenn mich jemand einlud, bin ich hingegangen. Es gibt wohl kaum ein unsystematischeres Vorgehen. Aber jeder Plan wäre mir nicht weniger willkürlich erschienen. Dafür bescherte mir jede Einladung sofort einen persönlichen Bezug, und immer verbanden sich damit Anregungen."
Über einige, wenn auch bei weitem nicht über alle dieser Begegnungen hat Ingo Schulze kleine, wiederum für uns Leser höchst anregende Reportagen geschrieben. In dem Band "Zu Gast im Westen. Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet" liegen sie vor.
Beobachter mit Ostblick
Es sind wunderbar unprätentiöse und aufgeschlossene, der eigenen Neugier folgende und den darin auftauchenden Menschen zugewandte Texte. Es gehört zu den Fähigkeiten Schulzes, dass er für all seine Romane, Erzählungen und Essays je eigene Tonlagen und eine eigene Sprache findet.
Und so ist es auch hier: Ganz im Dienst dessen, worüber er schreibt, nimmt er sich manchmal zurück, um ein andermal seine Erfahrungen als im Osten sozialisierter Schriftsteller einzubringen. Er schafft es, ohne Klischees ein starkes Gefühl für die jeweiligen Orte und Begebenheiten, die er beschreibt, herzustellen – ohne dabei als Literat auftrumpfen zu müssen.
Begegnungen mit den Menschen
Und er lässt den Geschichten seiner Gesprächspartner den größten Raum – jener etwa des Polizeipräsidenten a. D. Frank Richter, der in seiner aktiven Zeit zwischen allen Stühlen saß, aber dabei immer einem Leitsatz folgte: "Sicherheitspolitik ist Sozialpolitik".
Von Paul Lindemann erfährt er viel über Gelsenkirchen, mindestens ebenso viel aber über ein arbeitsames, glückliches Leben. Und Baumi aus Lützen berichtet von seiner kurios-aufregenden Flucht 1989 in den Westen. Mit ihm teilt Schulze nicht nur manche biografische Erfahrung, sondern vor allem eine Leidenschaft für den BVB.
Der Besuch von Fußballstadien – in Dortmund, bei Rot-Weiß Essen oder auch auf Schalke – gehört zum Pflichtprogramm für den Fan, und Schulze erzählt davon mit mitreißender Beseeltheit, in die sich immer wieder Irritationen einschleichen, vor allem aber erhabene Momente.
Einblicke ins alltägliche Leben
Schulze besucht Schulen in sogenannten Problemvierteln, lässt sich von ungewöhnlichen, aber umso überzeugenderen pädagogischen Konzepten berichten. Er besichtigt unter fachkundiger Leitung die Rheinisch-Westfälische Wasserwerksgesellschaft, ist fasziniert von der Historie der Wasseraufbereitung, den technischen Wunderwerken, deren Bedeutung einfach für selbstverständlich genommen wird.
Solche Exkursionen erlauben Schulze zugleich Ausflüge in die Geschichte. Es sind Zeitsprünge, die uns das heutige Ruhrgebiet überhaupt erst begreiflich werden lassen. Jeder Ort, an den der Autor eingeladen wird, bietet etwas Staunenswertes. Und jeder Ort hat mit besonderen Menschen zu tun, die Schulze mit großer Sympathie porträtiert.
Wer das Ruhrgebiet noch nicht kennt: Mit dem Blick des aufmerksamen Gastes aus dem Osten wird es einem ein Stückchen nähergebracht. Und man bekommt Lust, selbst einmal nach Essen, Mühlheim, Gelsenkirchen oder Duisburg zu fahren.
Quelle: MDR KULTUR (Ulrich Rüdenauer), Wallstein Verlag; Redaktionelle Bearbeitung: op
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 27. Februar 2024 | 14:15 Uhr