Aurorin Charlotte Gneuß 14 min
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Ost-West-Debatte Charlotte Gneuß zum Roman "Gittersee": Warum auch Nachgeborene über die DDR schreiben können

01. Oktober 2023, 13:55 Uhr

Für ihren DDR-Roman "Gittersee" wurde die 1992 geborene Autorin Charlotte Gneuß von der Kritik gefeiert. Ihr Debüt schaffte es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2023. Nachdem eine "Mängelliste" des Autors Ingo Schulze publik wurde, die historische Ungenauigkeiten moniert, rückte die Debatte um die Deutungshoheit über die DDR ins Zentrum – und damit die Frage, ob eine im Westen Nachgeborene den Osten "neu erfinden" darf. MDR KULTUR hat mit Charlotte Gneuß über diese Debatte gesprochen.

  • Der DDR-Roman "Gittersee" von Charlotte Gneuß spielt in Dresden 1976 und behandelt das Thema Staatssicherheit.
  • Seit dem Auftauchen einer "Mängelliste" wird debattiert, ob oder wie eine im Westen Nachgeborene die DDR neu erfinden darf.
  • Im Gespräch mit MDR KULTUR betont die Absolventin des Leipziger Literaturinstituts, der Skandal liege nicht im Diskurs, sondern darin, dass die Liste bei der Buchpreis-Jury gelandet sei.

In ihrem Debüt-Roman "Gittersee" erzählt die junge Autorin Charlotte Gneuß ein Stück DDR-Geschichte neu. Damit schaffte es die 1992 in Ludwigsburg geborene Absolventin des Deutschen Literaturinstitutes Leipzig aus dem Stand auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2023. Davon sei sie ebenso überrascht gewesen wie vom großen Medien-Echo auf die im Buch erzählte Geschichte, betonte Gneuß im Gespräch mit MDR KULTUR.

DDR-Roman spielt in Dresden: 16-Jährige gerät in die Fänge der Stasi

Ihr Roman führt ins Jahr 1976 nach Dresden, im Mittelpunkt steht die 16-jährige Karin, die nach der "Republikflucht" ihres Freundes in die Fänge der Staatssicherheit gerät. Auf die Frage, warum sie sich als Nachgeborene einem so oft behandelten Thema zugewandt habe, erklärt Gneuß: trotz der vielen Debatten nach der Aktenöffnung in den 90er-Jahren, trotz all der Bücher und Filme habe sie das Gefühl gehabt, "dass das noch nicht ganz aufgearbeitet ist": "Das hat ja oft eher so was Schlammschlachtartiges gehabt, wo man mit den Fingern aufeinander gezeigt hat."

Gerade als Nachgeborene habe sie sich gefragt, warum Menschen eigentlich zur Staatssicherheit gegangen seien. Deswegen habe sie in ihrem Roman versucht, "eine Identifikationsfigur zu schaffen, die dann in dieses System hineingerät". Dieser Zugang sei neu.

Autorin Gneuß wehrt sich gegen "Mängelliste" und "Erinnerungspolitik"

Gneuß' Roman wurde von der Kritik überwiegend lobend besprochen. Nach der Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises wurde eine so genannte "Mängelliste" publik. Im Gespräch mit MDR KULTUR weist Gneuß die Debatte um die vermeintlichen Fehler in der Darstellung des DDR-Alltags zurück und betont, dass sie sich vor allem auf die Erfahrungen ihrer in Dresden geborenen Eltern beziehe. Sie habe während der Arbeit an dem Roman viel mit ihren Eltern gesprochen, nicht nur über die besonderen Ereignisse, sondern auch darüber, "wie so ein Montagmorgen in der Schule aussah". Dabei habe sie gemerkt, "wie wenig wir dann doch über den Alltag oder Emanzipations-Momente wissen".

Das ist sehr schmerzhaft, immer wieder das Wort 'Fehler' oder 'Mängel' zu hören, wo es um reelle Erfahrungen meiner Eltern geht.

Charlotte Gneuß, Schriftstellerin

Neben der "offiziellen Erinnerungspolitik" gebe es auch ein "informelles Gedächtnis in den Familien", jenseits der großen Themen "Republikflucht" oder Stasi. Sie könne verstehen, dass Menschen sich nicht gesehen fühlten, "wenn wir von der DDR als reinem Diktatur-Gedächtnis sprechen".

Buchcover von Gittersee, darauf die Buchinformationen vor einem Schwarz-Weiß-Foto mit spielenden Kindern
Die 1992 in Ludwigsburg geborene Autorin Charlotte Gneuß hat ihren Debüt-Roman "Gittersee" über eine Jugend in der DDR geschrieben. Die Handlung spielt in den 1970er-Jahren in dem gleichnamigen Dresdner Stadtteil. Bildrechte: S. Fischer

Verlagskollege Ingo Schulze hat Gneuß' Roman kritisch gelesen

Medienberichten zufolge hatte Gneuß' Verlag S. Fischer das Manuskript lange vor dem Erscheinen des Romans dem Autor Ingo Schulze zukommen lassen. Der aus Dresden stammende Schriftsteller mit eigener DDR-Expertise, der ebenfalls bei S. Fischer publiziert, verfasste demnach eine Liste mit 24 Punkten, in der er unter anderem moniert haben soll, dass zu DDR-Zeiten niemand in der verdreckten Elbe habe baden können, wie es die Heldin des Romans von Charlotte Gneuß tut.

Thematisiert wurde auch, dass die Protagonisten keine DDR-typische Sprache, sondern heutige Floskeln wie "passt schon" verwendeten. Gneuß entgegnet im Gespräch mit MDR KULTUR, sie habe versucht, "mit dem Roman in die Zeit, aber nie ins Klischee zu gehen". Aus literarischer Perspektive brauche sie dafür nicht das Zeitkolorit einer bestimmten Epoche, sondern "eine Sprache, die jetzt zugänglich ist, auch für Jugendliche von heute".

Was in dem Roman verhandelt wird, sind ja menschliche Themen, die gegenwärtig bleiben. Es geht um Liebe, Eifersucht, Verrat und um die Frage, wie aus dem großen Ideal des Sozialismus auch etwas Böses entstehen konnte.

Charlotte Gneuß, Schriftstellerin

Junge Generation blickt neu auf die DDR: "Der Skandal liegt nicht im Diskurs"

Tatsächlich gab es viel Lob für Gneuß' Annäherung an die DDR-Vergangenheit. Ihr Schriftsteller-Kollege Matthias Jügler, 1984 in Halle geboren und damit ost-sozialisiert, nannte Gneuß' DDR-Darstellung im Gespräch mit MDR KULTUR "total gelungen": "Hier hat jemand eine Stimme und kann erzählen", so dass die Dialoge der Figuren nicht wie Wikipedia-Einträge klängen. In Gneuß' Roman sei die DDR-Welt nicht nur Kulisse, sondern er atme sie.

Für Jügler wie für Gneuß liegt es in der Natur der Sache, dass sich 30 Jahre nach der Wende nun eine jüngere Generation mit der DDR befasst. Im Gespräch mit MDR KULTUR verweist die Autorin auf ihre besondere Motivation, die daher komme, dass ihre Eltern das Land aus Protest verlassen hatten – ihr damit aber auch der Kontakt zur Großfamilie verloren gegangen sei, ebenso der Ort, an dem die Eltern zuhause gewesen seien. Der Frage nach dem Warum nachgehend, habe sie den Roman geschrieben, "sozusagen in Reaktion auf die Erinnerungspolitik".

Man muss Geschichte auch in der Komplexität erzählen, in der sie 'geschrieben' wurde.

Charlotte Gneuß, Schriftstellerin

Zugleich betont Gneuß, sie habe mit ihrem Roman nicht den Anspruch gehabt, eine Geschichte der DDR zu schreiben und kritisiert mit Blick auf die in Umlauf gebrachte "Mängelliste": "Der Skandal ist ja nicht, dass Herr Schulze und ich vielleicht unterschiedliche künstlerische Entscheidungen treffen würden, was den Text angeht. Der Skandal liegt nicht im Diskurs zwischen älteren und jüngeren Kolleginnen – der eine völlig natürliche Sache ist. Der Skandal ist, dass so eine Liste bei der Jury des größten Literaturpreises des Landes ankommen konnte, auf welchem Weg auch immer."

Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023 ist Charlotte Gneuß mit ihrem Debüt-Roman "Gittersee" nicht mehr vertreten.

Quelle: MDR KULTUR, Redaktionelle Bearbeitung: Katrin Schlenstedt

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 29. September 2023 | 17:10 Uhr

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