Lesung Charlotte Gneuß tritt als Dresdner Stadtschreiberin an
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03. Juni 2024, 10:57 Uhr
Charlotte Gneuß, die Autorin des viel diskutierten DDR-Romans "Gittersee", tritt ihr Amt als Stadtschreiberin von Dresden an. Am Montag startet sie mit einer öffentlichen Lesung. Zu Dresden hat sie eine intensive Beziehung: Ihre Eltern stammen von dort, verließen die DDR und leben heute wieder dort. Gneuß hat in Dresden studiert und kehrt nun ebenfalls für sechs Monate zurück in ein Stück Heimat. Was das für sie bedeutet, hat sie im Gespräch mit MDR KULTUR erzählt.
- Charlotte Gneuß ist ab Anfang Juni für sechs Monate Stadtschreiberin von Dresden.
- Sie nimmt die Fronten in der Stadt als verhärtet wahr.
- Die Debatte um ihren Debütroman "Gittersee" zur Deutungshoheit der DDR-Vergangenheit hat bei ihr Spuren hinterlassen.
Für ihren DDR-Roman "Gittersee", der im Dresden der 70er-Jahre spielt, ist Charlotte Gneuß, die neue Stadtschreiberin von Dresden, von der Kritik gefeiert worden. Das Buch stand 2023 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis und wurde mit dem "aspekte"-Literaturpreis für "das beste deutschsprachige Debüt" sowie mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung ausgezeichnet. Gleichzeitig löste es aber auch eine Debatte um die Deutungshoheit von DDR-Geschichte aus.
Gneuß bleibt für sechs Monate in Dresden
Gneuß hat ihre Stadtschreiberinnen-Wohnung in Dresden bereits bezogen, für die nächsten sechs Monate wird diese ihr Domizil sein. Von der Elbestadt zeigt sie sich im Gespräch mit MDR KULTUR begeistert: "Irgendwie ist in dieser Stadt immer was Besonderes, was hier liegt und wo ich das Gefühl habe: Von hier aus kann ich losschreiben oder losdenken. Es beruhigt mich wahnsinnig, hier zu sein."
Neue alte Heimat
Die in Ludwigsburg geborene und aufgewachsene Gneuß kennt Dresden gut. Hier hat sie Sozialarbeit studiert und gearbeitet, bevor sie dann zum Studium nach Leipzig ans Deutsche Literaturinstitut und später an die Universität der Künste nach Berlin gegangen ist.
Aber auch der Großteil ihrer Familie lebt hier. Und so fühlt Gneuß sich im Grunde schon seit ihrer Kindheit eng verbunden mit der Stadt. Sie bezeichnet Dresden als Heimat – die Stadt, die ihre Eltern vor dem Mauerfall verlassen hatten. Gneuß erläutert: "Natürlich hat es auch was fast Pathetisches: Meine Eltern haben die DDR und Dresden verlassen, weil sie dachten, dass hier ihre Stimme nichts mehr zählt und dass sie hier nichts zu sagen haben. Und wenn ihre Tochter jetzt hierher kommt und Stadtschreiberin ist, ist das natürlich für mich und natürlich auch für meine Familie mit einem ganz besonderen Gefühl aufgeladen."
Verhärtete Fronten
Inwieweit sie sich in ihrer Zeit in Dresden, die ja in den kommenden Wochen politisch vom Wahlkampf geprägt sein wird, in die geführten Debatten einbringen wird, darauf fällt Gneuß die Antwort schwer. Sie nimmt die Fronten als so verhärtet wahr, dass ihr ein Diskurs nur schwer möglich scheint. Sie sagt: "2015 habe ich ja auch hier gelebt. Damals habe ich mit Geflüchteten gearbeitet. Das war schon eine sehr heftige Zeit und das war ja auch der Ausgangspunkt dafür."
In dieser Zeit habe sie angefangen zu schreiben und ihre ersten Artikel über diese Situation geschrieben, sagt sie: "Das ist jetzt fast zehn Jahre her – und jetzt bin ich wieder in der gleichen Situation und könnte die gleichen Artikel schreiben. Das ist irgendwie heftig."
Pläne der Stadtschreiberin
Konkrete Pläne für Dresden hat Gneuß dennoch, zum Beispiel eine Lesereihe mit dem Titel "Wort für Welt" in der Zentralbibliothek, für die sie befreundete Autorinnen und Autoren eingeladen hat. Außerdem möchte sie die Museumscard, die sie als Stadtschreiberin bekommt, ausgiebig nutzen und möglichst alle Museen der Stadt besuchen.
Irgendwie ist in dieser Stadt immer was Besonderes, was hier liegt und wo ich das Gefühl habe, von hier aus kann ich losschreiben oder losdenken. Also es beruhigt mich wahnsinnig, hier zu sein.
Und natürlich ist da ihr nächster, zweiter Roman, an dem sie hier arbeiten und für den sie in der nächsten Zeit viel recherchieren will. Er soll aus der Zukunft auf unsere gegenwärtige Situation blicken, verrät sie.
Debatte um Debütroman "Gittersee"
Gneuß' Debütroman "Gittersee" spielt in den 1970er-Jahren in der DDR und handelt von einer 16-Jährigen, die in Dresden, nachdem ein Freund Republikflucht begangen hat, in die Fänge der Staatsicherheit gerät.
Um diesen Roman der heute 32-Jährigen wurde eine erbitterte Debatte geführt. Diskutiert wurde, wer wie über den Osten schreiben dürfe, vor dem Hintergrund, dass hier eine junge Autorin, die die DDR selbst nicht erlebt hat und die zudem in Baden-Württemberg aufgewachsen ist, über diese Zeit erzählt.
Bei Gneuß haben diese Diskussionen Spuren hinterlassen. Aber am Ende hat sie das Ganze produktiv für sich genutzt, wie sie beschreibt: "Natürlich hat mich im Zuge des Diskurses die Frage beschäftigt, wie wir die DDR erzählen. Und ich habe daraufhin ganz viele Autorinnen eingeladen, mit mir über diese Frage nachzudenken – und bin jetzt ganz glücklich, dass im Herbst eine neue Rundschau bei S. Fischer erscheint unter dem Titel: 'Diktatur oder Utopie – Wie erzählen wir die DDR?'"
Mit dabei sind Autoren wie Dirk Oschmann, Jana Hensel, Lukas Rietzschel, Ofer Waldman oder Helga Schubert, so Gneuß. Auch Ingo Schulze, der mit seiner öffentlich gewordenen "Mängelliste" zum Roman die Ost-West-Debatte um "Gittersee" ausgelöst hatte, gehört dazu.
Quelle: MDR KULTUR (Grit Krause)
Redaktionelle Bearbeitung: op
Weitere Informationen
Antrittslesung der Dresdner Stadtschreiberin 2024 – Charlotte Gneuß
3. Juni 2024 | 19:30 bis 21:00 Uhr
Zentralbibliothek im Kulturpalast
Schloßstraße 2, 01067 Dresden
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 03. Juni 2024 | 08:10 Uhr