Wartezeit für Therapeuten Psychotherapeuten in Sachsen-Anhalt: Der lange Weg zur eigenen Praxis

27. Mai 2023, 14:27 Uhr

Wer eine Psychotherapie benötigt, muss in Sachsen-Anhalt oft lange auf einen Therapieplatz warten. Zugleich gibt es auch für viele Psychotherapeuten Wartezeiten: Weil Sachsen-Anhalt als voll versorgt gilt, gibt es wenige freie Kassensitze für eine Praxis-Eröffnung. Anders war es bei Sarah Seide. Sie konnte ihre Praxis in Salzwedel wenige Monate nach Ausbildungsende eröffnen – und hatte schnell eine volle Warteliste. Denn auch auf dem Land ist der Bedarf nach Psychotherapie hoch.

Bild einer jungen Frau
Bildrechte: Martin Neuhof

Sarah Seides Praxis für Psychotherapie liegt im Süden von Salzwedel in der Altmark. Vor gut einem Jahr hat die 33-jährige Therapeutin zum ersten Mal ihr Behandlungszimmer geöffnet, einen großen Raum mit breiter Fensterfront, Bücherregal und in der Mitte zwei dunkelgrünen Sesseln mit einem Tischchen dazwischen.

Dass sie in Salzwedel arbeiten will, habe für sie früh festgestanden, sagt Seide. Nach dem Studium im bayerischen Eichstätt und der Ausbildung in Dresden und Magdeburg habe es sie zurück in die Heimat gezogen, das Wendland. "Ich dachte, es wäre schön, im Wendland zu wohnen und in Salzwedel zu behandeln. So habe ich eine Trennung zwischen privat und beruflich."

Nur wenige freie Kassensitze für Psychotherapeuten in Sachsen-Anhalt

Nach ihrer Approbation im Sommer 2021 habe sie ihre erste Bewerbung für eine Zulassung auf einen psychotherapeutischen Kassensitz abgeschickt, berichtet Seide. Eigentlich sei das nur ein Test gewesen, um die bürokratischen Abläufe kennenzulernen – "aber dann hat alles sofort funktioniert". Sie habe sich gegen einen weiteren Bewerber durchgesetzt und den halben Sitz einer Kollegin übernehmen können. "Das war unerwartet", sagt Seide.

Weil Sachsen-Anhalt laut Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigung offiziell als voll versorgt gilt, sind offene Kassensitze für psychologische Psychotherapeuten rar. Nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt (KVSA) gibt es aktuell 1,5 besetzbare Stellen im Landkreis Harz und eine im Salzlandkreis. Für ärztliche Therapeuten seien mehr Stellen frei. Oft übernehmen die psychologischen Psychotherapeuten deshalb den Sitz von Kollegen, wenn diese beispielsweise in Rente gehen.

Das bedeutet der Versorgungsgrad

Der Versorgungsgrad ist ein Begriff aus der Bedarfsplanung, mit der die Kassenärztlichen Vereinigungen die ambulante Versorgung mit Ärzten und Therapeuten für alle gesetzlich versicherten Patienten sicherstellen.

Sind in einer Region alle vorgesehen Stellen besetzt, beträgt der Versorgungsgrad 100 Prozent. Dann gilt die Region als voll versorgt. Ab einem Versorgungsgrad von 110 Prozent ist sie für neue Niederlassungen gesperrt.

Mehr zur Versorgungslage im Altmarkkreis Salzwedel

Der Altmarkkreis Salzwedel hat nach Angaben der KVSA einen Versorgungsgrad von 110,8 Prozent – was einer Vollversorgung entspricht. Demnach sind dort 11,75 Stellen mit psychologischen Psychotherapeuten besetzt, 0,25 mit ärztlichen und 3,25 mit Kinder- und Jugendpsychotherapeuten.

So unterscheiden sich Kassensitz, Privatpraxis und Anstellung

Psychotherapeuten können sich mit einer eigenen Praxis selbstständig machen. Als Kassensitz vergüten ihnen die gesetzlichen Krankenkassen die Behandlung von gesetzlich versicherten Patienten. Die Abrechnung erfolgt über die Kassenärztliche Vereinigung.

Psychotherapeuten mit einer Privatpraxis rechnen die Behandlungen mit den privaten Krankenkassen ab oder stellen sie den Patienten in Rechnung, wenn diese sie selbst bezahlen oder in Vorleistung gehen. Nach Angaben der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer (OPK) gibt es nur sehr wenige Privatpraxen in ländlichen Regionen. Diese befinden sich vor allem in Großstädten.

Darüber hinaus können Psychotherapeuten als Angestellte in Kliniken oder den Praxen ihrer Kollegen arbeiten.

Fünfstellige Kosten für einen Kassensitz in Sachsen-Anhalt

Wer einen Kassensitz übernehmen will, muss dafür in der Regel Kosten einplanen. Nach Angaben der KVSA hat ein Sitz in den Jahren 2019 und 2020 im Schnitt rund 24.000 Euro gekostet. Die Preise, die Therapeuten für die Übergabe ihrer Praxis verlangen, seien individuell und variierten zwischen Stadt und Land. Die KVSA geht davon aus, dass die Preise seit 2020 gestiegen seien. Genaue Daten würden jedoch nicht vorliegen.

Sarah Seide sagt, ihr halber Sitz in Salzwedel habe 12.500 Euro gekostet. Das sei für sie in Ordnung gewesen, auch, weil der Preis für die Übergabe bei einigen Kollegen Teil der Altersvorsorge sei. Die Kosten für Kassensitze seien ein heikles Thema: Denn Psychotherapeuten, die einen Sitz übernehmen, würden in der Regel im Gegensatz zu ärztlichen Kollegen keine Praxisausstattung bekommen.

Zudem sei die Situation regional extrem unterschiedlich. Kolleginnen und Kollegen aus anderen Teilen Deutschlands hätten Seide von Kosten zwischen null und 60.000 Euro für einen halben Kassensitz berichtet. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung teilte auf Nachfrage von MDR SACHSEN-ANHALT mit, sie habe dazu keine allgemeinen Informationen.

Nur wenige Psychotherapeuten wollen aufs Land

Will ein Psychotherapeut einen Kassensitz abgeben, hängt es der KVSA zufolge von der Region ab, wie viele Bewerber es darauf gibt. In Halle oder Magdeburg sei die Zahl oft relativ hoch, in der Börde, dem Salzlandkreis, dem Harz oder im Kreis Mansfeld-Südharz geringer. Ähnliches berichtet Sarah Seide, die im Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten (bvvp) organisiert und Vorsitzende des Landesverbands Sachsen-Anhalt ist: "Wie bei anderen Arztgruppen haben wir auf dem Land Schwierigkeiten, Leute zu bekommen."

Das beobachtet auch die Sprecherin der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer (OPK), Antje Orgass. In Stellenausschreibungen für Kassensitze außerhalb von Großstädten wie Leipzig oder Magdeburg stehe oft, wie weit der Weg von dort zum Praxissitz ist. Gleichzeitig sei die Arbeit im ländlichen Raum anspruchsvoller, denn die Psychotherapeuten müssten sich über ein großes Gebiet hinweg mit anderen Therapeuten, Psychiatern und Ärzten vernetzen. "Ich glaube, das ist wirklich ein schwierigeres Arbeiten", sagt Orgass, "gerade wenn man sich schwer psychisch erkrankter Menschen annimmt."

Seide: Lange Warteliste für Therapieplatz

Als Sarah Seide ihre Praxis in Salzwedel eröffnet hat, habe der erste Patient schon angerufen, kurz nachdem sie das Praxisschild aufgehängt hatte, berichtet sie. "Bevor ich überhaupt angefangen hatte, hatte ich eine Warteliste, die ich gar nicht bedienen konnte", sagt Seide. Aktuell stünden darauf 75 Personen. Für eine gute Versorgung in und um Salzwedel spreche das nicht. Zu einer guten Versorgung würden mehr Angebote für die Patienten gehören, sagt Seide: Prävention, Therapieplätze ohne lange Warteliste, Selbsthilfegruppen und bessere Netzwerke.

Bevor ich überhaupt angefangen hatte, hatte ich eine Warteliste, die ich gar nicht bedienen konnte.

Sarah Seide Psychotherapeutin

Seide sagt, sie behandle in ihrer Praxis jede Woche 14 bis 18 Patienten. Das sei im Rahmen der Stunden, die sie abrechnen könne, aber mehr als die Mindestzahl, die für ihren halben Sitz wöchentlich erforderlich wäre. Hinzu käme eine wöchentliche Sprechstunde, die über die Terminservicestelle vermittelt werde. Diese diene aber erstmal nur dazu, den Bedarf eines Patienten einzuschätzen.

Immer mehr Arbeitsteilung bei Psychotherapeuten

OPK-Sprecherin Antje Orgass berichtet, in der Corona-Pandemie sei der Bedarf nach Psychotherapie gestiegen. Das habe auch die Arbeitsbedingungen der Therapeuten erschwert, die ein großes Patientenaufkommen stemmen mussten. Hinzu kämen neue Anforderungen durch die Erstsprechstunden.

Orgass gehe davon aus, dass die psychotherapeutische Praxis sich verändern werde. Ähnlich wie in Arztpraxen werde es immer mehr Arbeitsteilung geben, sei es durch Assistenten, die das Telefon besetzen oder angestellte Therapeuten, die die Diagnostik übernehmen. Zudem beobachte Orgass, dass immer mehr Psychotherapeuten ihren Praxissitz halbieren oder einen halben Sitz übernehmen, wie es bei Sarah Seide der Fall war.

Seide wirbt für mehr Zusammenarbeit unter Therapeuten

Psychotherapeuten, die in den Beruf starten, rät Sarah Seide, sich Unterstützung zu suchen. Sie selbst habe Hilfe von der Wirtschaftsförderung der Stadt Salzwedel sowie von der KVSA bekommen. Letztere bietet nach eigenen Angaben unter anderem Beratungen an, beispielsweise zu Niederlassung, Existenzgründung und Abrechnung. Auch Berufsverbände wie der bvvp unterstützen Therapeuten beim Berufseinstieg, sagt Seide. Als Landesvorsitzende des Verbands setze sie sich zudem für Kooperation unter den Psychotherapeuten in Sachsen-Anhalt ein.

Ältere wie jüngere Therapeutinnen und Therapeuten sollten mehr miteinander reden, sich austauschen und einander Möglichkeiten aufzeigen, schlägt sie vor. Ein Weg könne sein, dass ältere Kollegen Berufseinsteiger anstellen: So könnten sie ihre Praxis gut übergeben, während junge Therapeuten den Arbeitsalltag kennenlernen, bevor sie einen eigenen Sitz übernehmen. "Es gibt Möglichkeiten", sagt Seide, "wir brauchen einfach noch ein bisschen mehr Verständigung."

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MDR (Maren Wilczek)

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