Fragen und Antworten Arztbesuch: Welche Probleme Menschen mit Behinderung in Sachsen-Anhalt haben
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05. Februar 2023, 16:35 Uhr
Alte Menschen, Rollstuhlfahrer, Mütter mit Kinderwagen – sie alle sind auf barrierearme Arztpraxen angewiesen. Denn wer noch nicht einmal in die Praxis hineinkommt, kann auch nicht behandelt werden. Mindestens 500 Arzt- und Psychotherapiepraxen in Sachsen-Anhalt sind nicht barrierefrei zugänglich. Das schränkt die freie Arztwahl ein. Doch es geht auch anders.
Wie viele Gesundheitseinrichtungen in Sachsen-Anhalt sind barrierefrei?
Es gibt in Sachsen-Anhalt 2.945 Arzt- und Psychotherapiepraxen (Stand Ende 2022). Wie die Kassenärztliche Vereinigung MDR SACHSEN-ANHALT auf Nachfrage mitteilte, sind davon 1.689 barrierefrei zugänglich – also rund 57 Prozent.
222 Praxen gelten als bedingt barrierefrei, 266 sind für gehbehinderte Patienten zugänglich (haben also maximal 6 aufeinanderfolgende Stufen). Allerdings beinhalten die angesetzten Kriterien beispielsweise nicht, dass es auch behindertengerechte Toiletten gibt.
Die übrigen rund 770 Praxen haben der Kassenärztlichen Vereinigung keine Auskunft über ihre Barrierefreiheit gegeben.
Barrierefrei oder bedingt barrierefrei – Das sind die Unterschiede:
Barrierefrei
- stufenloser Zugang (Türschwellen max. 3cm hoch, Rampen max. 6% Steigung)
- Abstand zwischen Türen & Windfang mind. 250cm
- Klingen in Klinkenhöhe vorhanden
- Türen: mind. 1 Flügel von mind. 90cm Breite
- keine schwer öffnenden Türen (z.Bsp. Brandschutztüren)
- Aufzug (falls vorhanden): Türbreite geöffnet mind. 90cm, Fahrstuhlkabine mind. 110cm x 140cm, kein Lastenaufzug
Bedingt barrierefrei
- Eingang sowie Zugang zu Empfang, Wartezimmer und Behandlungsraum max. 1 Stufe, Rampen über 6% Steigung
- Türen: mind. 1 Flügel von mind. 80cm Breite
- Aufzug (falls vorhanden): Türbreite geöffnet mind. 80cm, Fahrstuhlkabine mind. 80cm x 120cm
Für gehbehinderte Patienten zugänglich
- max. 6 aufeinander folgende Stufen
- Handlauf vorhanden
- Sitzgelegenheiten in Anmelde- und Wartezonen
Welche Probleme haben körperlich oder kognitiv beeinträchtigte Personen, die zum Arzt wollen?
Eigentlich könnten sich behinderte Menschen in jeder der knapp 3.000 Arzt- und Psychotherapiepraxen in Sachsen-Anhalt behandeln lassen. Doch die freie Arztwahl ist für sie eingeschränkt.
Da sind zum einen bauliche Barrieren – denn wer nicht laufen kann, für den ist teilweise schon eine einzige Stufe ein unüberwindbares Hindernis. Zudem sind fehlende barrierefreie Behandlungsgeräte ein Problem, wie der Verein Sozialhelden auf Nachfrage mitteilte. Dann gibt es Barrieren bei der Kommunikation, wie beispielsweise fehlende Informationen in Leichter Sprache für geistig behinderte Menschen. Und wer wegen einer geistigen Behinderung nicht sagen kann, was ihm weh tut, wird bei einem "normalen" Arzt, der unter Zeitdruck arbeitet, kaum Hilfe finden können. Auch Blinde und Sehbehinderte Menschen haben Probleme bei Arztbesuchen, sie können laut den "Sozialhelden" beispielsweise Dokumente wie den Anamnesebogen nicht ohne Hilfe nutzen.
Was für beeinträchtigte Menschen ebenfalls schlimm ist: Ihnen werde häufig höchst unsensibel begegnet, berichtet der Verein "Sozialhelden". So würde beim Arztbesuch nur mit der Assistenzperson anstatt mit dem Patienten oder der Patientin gesprochen oder Ärzte würden die Expertise des Betroffenen zur eigenen Behinderung nicht anerkennen.
Gibt es Ärzte nur für Menschen mit Behinderungen?
In Sachsen-Anhalt an vier Standorten: Bernburg, Halle, Magdeburg und Neinstedt, einem Ortsteil von Thale. In den sogenannten Medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEBs) werden nur Erwachsene behandelt, deren Grad der Behinderung mindestens 50 beträgt. Das Angebot richtet sich an Menschen mit geistiger Behinderung oder Mehrfachbehinderung, die durch die Schwere oder Komplexität ihrer Einschränkungen eine spezielle medizinische Versorgung brauchen.
Welcher Ort war Vorreiter für Sachsen-Anhalt?
In Halle wurde im Jahr 2019 das erste Medizinische Zentrum für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) des gesamten Bundeslands eröffnet. Es gehört zum Krankenhaus St. Elisabeth und St. Barbara und befindet sich in der Barbarastraße 4. Der Patientenstamm beträgt mittlerweile rund 300 Patienten, die laut der Ärztlichen Leiterin Gabriele Anders vor allem geistige Behinderungen haben.
Die Patienten kämen aus Halle und dem Saalekreis, aber auch aus Thüringen und Nordsachsen. Leiterin Gabriele Anders ist Neurologin, ihr Team kann zudem Innere Medizin, Psychiatrie, Psychologie, Ergotherapie uvm. abdecken. "Es ist ein interdisziplinäres Arbeiten, das sehr intensiv ist – räumlich, zeitlich, personell. Wir springen immer dann ein, wenn es für die bestehende Regelversorgung zu komplex, zu umfassend wird." Dabei spiele es keine Rolle, ob die Behinderung angeboren oder "erworben" sei. Mache Zentren würden da einen Unterschied machen und Menschen mit "erworbener" Behinderung nicht behandeln.
Was ist das Besondere am MZEB in Halle?
Am Zentrum in Halle ist so viel wie nur möglich auf die Bedürfnisse von behinderten Erwachsenen abgestimmt und so barrierearm wie möglich gehalten. Das Licht ist dimmbar, um es je nach dem Bedarf sehbehinderter Patienten einzustellen. Es gibt breite Türen, Türklinken auf Höhe von Rollstuhlfahrern und eine großzügige behindertengerechte Toilette. Was noch fehlt, ist eine Pflegeliege zum Wechseln von Inkontinenzmaterial. Sie soll dieses Jahr angeschafft werden.
In beiden Behandlungsräumen stehen höhenverstellbare, breite Untersuchungsliegen. Die Wände sind in angenehmen Farben gestaltet, damit sich auch psychisch Kranke wohlfühlen können. EEG, Ultraschall, EKG und Blutabnahme sind möglich, doch auf den ersten Blick nicht ersichtlich – wegen Patienten, die Angst davor haben könnten.
Das Personal kann sich die Zeit nehmen, die die Patienten brauchen und verwendet, wenn nötig, Leichte Sprache. Oft müssen die Ärzte bzw. Therapeuten auch mit nonverbaler Kommunikation versuchen, Informationen von den Patienten zu bekommen.
Das MZEB Halle sammelt zudem für Betroffene Informationen rund um Barrierefreiheit: Wo gibt es barrierefreie Angebote, wo Beratungsstellen, Krankenhäuser, Facharztpraxen. "Viele sind dankbar für uns als Anlaufstelle", sagte die Ärztliche Leiterin Gabriele Anders MDR SACHSEN-ANHALT.
Doch eines sei auffällig: Die Patienten und Angehörigen seien selbst überrascht, was alles möglich ist. "Wenn jemand 30, 40, 50 Jahre mit seiner Einschränkung lebt, ist gar nicht die Idee da, dass manches nicht so optimal ist, dass es andere Möglichkeiten gibt, andere Hilfsmittel. Und dann kommt die große Dankbarkeit, das große Staunen, was tatsächlich zu verbessern geht."
Wie finanzieren sich die MZEBs?
Die Krankenkassen übernehmen die Kosten der Behandlung. Grundlage ist die UN-Behindertenrechtskonvention, die 2009 verabschiedet wurde. Damals wurde festgestellt, dass in Deutschland eine Unterversorgung vor allem von Menschen mit geistiger Behinderung und schwerer Mehrfachbehinderung besteht. Im Jahr 2015 hat Deutschland dann per Gesetz die Einrichtung der MZEBs ermöglicht.
Sind Ärzte verpflichtet, ihre Praxen barrierefrei zugänglich zu machen?
Nein. Und selbst wenn der Wille zum Umbau da ist, stößt er laut Kassenärztlicher Vereinigung Sachsen-Anhalt (KVSA) auf "grundlegende Hemmnisse". Einerseits könnten die Kosten schnell sechsstellige Summen erreichen, andererseits erlaubten teilweise die baulichen Gegebenheiten einen Umbau nicht. "Diese Aufwände sind von den Ärzten nicht ohne finanzielle Unterstützung oder allein durch die Ermöglichung günstiger Kredite zu stemmen", teilte die Ärzte-Vereinigung MDR SACHSEN-ANHALT auf Nachfrage mit. Zuschüsse zu Um- oder Neubaumaßnahmen wären wichtig. Für Sachsen-Anhalt seien der KVSA solche Programme nicht bekannt, in Sachsen gäbe es beispielsweise ein kleines Investitionsprogramm.
Wie sieht die perfekte barrierefreie Praxis aus?
Die ideale Praxis ist in der DIN 18040 zum barrierefreien Planen und Bauen beschrieben. Dort wird an alle Gruppen gedacht: Seh- und Hörbehinderte, Groß- und Kleinwüchsige, an Kinder, alte Menschen, Menschen mit motorischen oder kognitiven Einschränkungen.
"Es gibt allerhand Dinge, die beachtet werden müssen, die aber allen Menschen zugutekommen", sagte Architektin Anja Clement MDR SACHSEN-ANHALT. Sie lebt in Dessau-Roßlau und arbeitet aufgrund ihrer ALS-Erkrankung mit einer geförderten Arbeitsassistenz zusammen. Heute setzt sie sich umso mehr für Menschen mit Beeinträchtigungen ein. Denn sie weiß aus eigenem Erleben: Für sie und ihren Rollstuhl muss eine Tür beispielsweise mindestens 75 Zentimeter breit sein. Wenn sie jedoch auf eine Tür nicht geradezu fahren kann, benötigt sie 90 Zentimeter. Und so steht es auch in der DIN.
Neben den Türbreiten regelt die Norm alles, bis hin zur Höhe der Haltegriffe in der behindertengerechten Toilette. Die Kosten für diese Maßnahmen seien bei einem Neubau nicht erheblich höher, als wenn auf sie verzichtet würde, so Architektin Anja Clement. "Das ist ja auch eine Qualität, die man allen Patienten zur Verfügung stellt." Laut Bauordnung des Landes Sachsen-Anhalt müssen öffentlich zugängliche Bereiche von Gebäuden barrierefrei gestaltet sein, dazu zählen auch "Einrichtungen des Gesundheitswesens". Doch die Barrierefreiheit wird von den Bauordnungsämtern laut Clement meist nicht geprüft.
Wie finde ich online eine barrierefreie Praxis?
Die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen-Anhalt bietet online eine Arzt- und Psychotherapeutensuche an. Dort kann generell nach Ärzten gesucht werden, zudem gibt es die Filtermöglichkeit "Barrierefreiheit".
Außerdem gibt es die Arzt-Auskunft der Stiftung Gesundheit, die barrierefreie Praxen für ganz Deutschland führt. Es kann dort beispielsweise nach "geeignet für Menschen mit Hörbehinderung" oder "geeignet für Menschen mit Sehbehinderung" gesucht werden. Weitere Filtermöglichkeiten sind u.a. "Gebärdensprache" oder auch "Behindertenparkplatz".
Zudem gibt es das kostenfreie Online-Angebot "wheelmap" (wheel = Rad, map = Karte). Dort tragen Menschen mit und ohne Behinderung ein, wie gut zugänglich Orte wie Arztpraxen, Museen oder Restaurants sind. Die Karte mit rund 14.000 Einträgen für Sachsen-Anhalt ist ein Projekt des Vereins "Sozialhelden".
Informationen zum Thema in Leichter Sprache finden Sie hier:
Über die Autorin
Luise Kotulla arbeitet seit 2016 als freie Mitarbeiterin bei MDR SACHSEN-ANHALT. Schwerpunkte der gebürtigen Hallenserin sind Themen aus dem Süden Sachsen-Anhalts, rund um engagierte Menschen und Probleme vor Ort. Außerdem ist sie für MDR um 4 als Fernsehredakteurin unterwegs.
Bevor sie zum MDR kam, hat sie beim Stadtfernsehen TV Halle gearbeitet. Sie studierte Geschichte, Medienwissenschaft und Online-Journalismus in Halle und Großbritannien. Ihre Lieblingsorte in Sachsen-Anhalt liegen in und um Halle, im Burgenlandkreis und im Harz.
MDR (Luise Kotulla, Falko Schuster)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 06. Februar 2023 | 19:00 Uhr