MDR-Thementag "Not in der Nähe" Versteckte Armut in Dessau: Wenn es einsam und kalt wird im Block
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17. Januar 2023, 09:27 Uhr
In Dessau-Roßlau sind viele Mietshäuser von Leerstand betroffen. In manchem Block wohnen daher nur noch einzelne Menschen. Immer wieder handelt es sich um Alte mit geringer Rente. Da viele aus falscher Scham keine Sozialhilfe beantragen, scheint ein Umzug für sie unmöglich. Nun werden zusätzlich die Energiepreise zum Problem für die Betroffenen.
- Günstige Uralt-Mietverträge lassen Armutsbetroffene in Dessau in fast leeren Blocks verharren.
- Immer wieder sind das Rentnerinnen und Rentner, die mit Grundsicherung oder Wohngeld anders leben könnten, jedoch vor einer Beantragung zurück schrecken – aus falscher Scham. Laut Paritätischem Gesamtverband könnte das bundesweit auf 60 Prozent aller anspruchsberechtigten Rentner zutreffen.
- In Sachsen-Anhalt leben rund 70.000 Über-65-Jährige unterhalb der Armutsgrenze. Vor allem Alleinlebende sind betroffen.
Es gibt sie überall in Dessau. Neubaublocks, die weit mehr an schäbige Denkmäler des "real existierenden Sozialismus" erinnern denn an intakte Wohnstätten. Graubraun und trist. Oft viergeschossig. Viele Fenster gardinenlos und schwarz.
Im westlichen Stadtteil Dessau Alten finden sich noch viele dieser DDR-Relikte. Einige Wohneingänge hier erwecken den Eindruck, als gehe schon seit sehr langer Zeit keiner mehr ein und aus. Aber der Schein trügt. Wer die Treppen erklimmt, findet spärliche Hinweise auf Bewohner. Von den insgesamt zwölf Klingeln tragen vereinzelte noch Namen. Manchmal noch zwei oder drei. Manchmal ist nur noch ein einziger übrig.
Günstige Uralt-Mietverträge: "Sonst wäre ich auch längst weg"
Wer sind die Menschen, die in nahezu leerstehenden Blocks ausharren und warum ziehen sie nicht "einfach" weg? Oft seien es alte Leute, berichtet ein Postbote, der im Viertel seine Runde dreht und zusieht, dass er schnell weiterkommt. Das bestätigt später ein Anwohner mittleren Alters dem MDR-Reporter. Er spricht von günstigen Uralt-Mietverträgen, die auch ihn hier halten würden. "Sonst wäre ich längst weg." – Bei den wenigen, die den Leerstand noch bewohnen, handelt es sich immer wieder um Rentner, die ihren Alltag mit sehr geringer Rente unterhalb der Armutsgrenze bestreiten müssen und die sich noch dazu teils weit außerhalb des Sozialsystems bewegen. Wäre die Miete anderswo nur ein bisschen höher, würde das schon eine unüberwindbare Hürde für sie bedeuten, von den Kosten für einen Umzug ganz zu schweigen.
Als Vorsitzende des Mieterbunds Dessau kennt Gabriele Perl einige dieser Fälle. "Armut in Dessau ist häufig alt, weiblich und alleinstehend", beschreibt sie. So fänden sich nicht selten von Altersarmut betroffene Rentnerinnen allein oder so gut wie allein in leeren Blocks wieder – und in kalten Wohnungen. Denn hohe Energiepreise plus schlechte Sanierungsstände, alte Heizungsanlagen sowie die unbeheizte Leere ringsum treibe die Nebenkosten stark nach oben, so Perl.
Das bestätigt eine Rentnerin, die vor einem sanierten Wohnblock in der Nähe gerade gemeinsam mit einer Katze frische Luft schnappt. Sie möchte anonym bleiben. Bis vor kurzem wohnten sie und ihr Mann ebenfalls noch in einem der unsanierten Häuser in Sichtweite. Dort hätten sie zuletzt 375 Euro an Nebenkosten gezahlt, erzählt sie. In der neuen Wohnung würden sie weniger als die Hälfte zahlen. Wie ihnen ehemalige Nachbarn vor kurzem berichteten, haben sich die Abschläge in ihrem ehemaligen Wohnblock nun noch einmal verdoppelt.
In Dessau trifft hohes Durchschnittsalter auf höchste Leerstandsquote im Land
Bei diesen Preisen würden alleinstehende Rentner und Rentnerinnen in den maroden Blocks wohl lieber frieren als die Heizung aufdrehen, schätzt Gabriele Perl. "Bezahlen müssen sie trotzdem – über die Grundkosten fürs Haus." Ein Umstand, der den Mieterbund häufiger beschäftige, zumal die Liefermengen oftmals trotz Leerstand nicht gedrosselt würden.
Perl kennt nur einen Bruchteil der Betroffenen, denn nur Mitglieder können sich vom Mieterbund beraten lassen. Der Mitgliedsbeitrag sei eine hohe Hürde für Armutsbetroffene. Doch die Mieterbund-Chefin, die auch für die SPD im Stadtrat sitzt, hat eine Zahl parat, über die man sich dem potenziellen Betroffenenkreis zumindest nähern kann. 1.730 Haushalte gebe es in Dessau-Roßlau, die sich in Häusern mit über 30 Prozent Leerstand befänden, sagt Perl. Da die Stadt mit einem Altersschnitt von 50,6 zu den ältesten Deutschlands gehört, lässt sich vermuten, dass darunter nicht eben wenige Alte sind.
Dessau-Roßlau hat die höchste Leerstandsquote in ganz Sachsen-Anhalt. Fast 35 Prozent der kommunalen Wohnungen sind nicht vermietet. Das meldete noch im Juni vergangenen Jahres die Mitteldeutsche Zeitung (€). Inzwischen habe man den Leerstand auf unter 30 Prozent reduziert, sagte die Dessauer Wohnungsbaugesellschaft (DWG) MDR SACHSEN-ANHALT auf Nachfrage und führt das auf Modernisierungen zurück, die schnellere Neuvermietungen zur Folge hätten. Abrisse und Verkäufe von Blocks dürften die Quote jedoch ebenfalls verbessert haben, ebenso wie der Zustrom ukrainischer Kriegsflüchtlinge.
Grundsicherung und Wohngeld: 60 Prozent der Anspruchsberechtigten verzichten auf Leistungen
Fest steht jedenfalls, dass es in der Bauhausstadt nicht an bezahlbarem, auch saniertem Wohnraum mangelt, wenngleich vorsintflutliche Kaltmieten wie in den beschriebenen Häusern sicherlich nirgends mehr zu finden sind. Da Rentner unterhalb der Armutsgrenze jedoch Anspruch auf Wohngeld oder Grundsicherung haben, müsste theoretisch trotzdem kein alter Mensch allein in einem unsanierten Block leben. Auch Gabriele Perl sieht das so. Allerdings gibt es einen entscheidenden Haken. "Diese Leute gehen nicht aufs Amt – aus falscher Scham. Das ist eine Generation, für die es undenkbar ist, nach einem arbeitsreichen Leben Hilfe vom Staat in Anspruch zu nehmen", so die Mieterbund-Chefin.
Diese Leute gehen nicht aufs Amt – aus falscher Scham. Das ist eine Generation, für die es undenkbar ist, nach einem arbeitsreichen Leben Hilfe vom Staat in Anspruch zu nehmen.
Tatsächlich scheint das eine Hauptursache für akute Altersarmut in Deutschland zu sein, zudem eine erschreckend häufige: Der Anteil bedürftiger Rentner, die keine Sozialleistungen beantragen, könne bei 60 Prozent und mehr liegen, sagte Joachim Rock vom Paritätischen Gesamtverband MDR SACHSEN-ANHALT auf Nachfrage. Das habe unterschiedliche Gründe: "Die Grundsicherung und das Wohngeld sind gerade für ältere Menschen nur schwer und kompliziert zu beantragen, viele ältere Menschen befürchten auch, dass dann Angehörige für sie 'haften' müssen, in der Regel zu Unrecht", so Rock.
Wie Altersarmut entsteht
In Deutschland können Unterbrechungen während des Arbeitslebens (z.B. wegen Arbeitslosigkeit, Kindererziehung, Pflege), Tätigkeiten im Niedriglohnsektor und Selbstständigkeit dazu führen, dass Menschen weniger Geld in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen und dadurch von Altersarmut bedroht sind.
Alleinerziehende Frauen sind besonders von Altersarmut gefährdet. Sie können aufgrund der Kindererziehung häufig nur wenig arbeiten, haben jedoch viele Ausgaben. Quelle: Aktion Deutschland Hilft
Was die Folgen von Altersarmut sind
Laut dem Armutsforscher Christoph Butterwegge führt Altersarmut zur Vereinsamung der Betroffenen, denn ohne Geld gebe es kaum Beteiligungsmöglichkeiten: "Man kann ja kaum irgendwohin gehen, ohne dass man Geld ausgeben muss. Also der Besuch eines Kinos, eines Theaters, mal in ein Restaurant zu gehen. All das fällt weg, wenn das Geld dafür nicht reicht", sagt Butterwegge im Interview mit MDR exakt. So könnten eventuell auch Freunde nicht mehr getroffen werden.
Wenn Krisen wie die aktuellen hinzukommen – Inflation, steigende Energie- und Lebensmittelpreise – dann sei es für ältere Menschen besonders schwierig. "Weil sie eben das Haus selten verlassen. Das heißt, sie heizen relativ viel. Sie sind auch eher für Kälte anfällig als junge Menschen", so Butterwegge. Wenn sich im selben Maße die Preise erhöhten wie bisher, dann seien alte Menschen mit kleinen Renten die Hauptbetroffenen.
Wie groß der Bedarf allein in Sachsen-Anhalt ist, zeigen Zahlen der Deutschen Rentenversicherung. Von den rund 600.000 Rentnerinnen und Rentnern im Land bekommen 224.989 weniger als 1.000 Euro Rente, das ist mehr als ein Drittel. Betroffen sind 60.699 Männer und 164.290 Frauen. Allerdings ist die Rentenhöhe nicht aussagekräftig genug. Es können zusätzliche Alterseinkünfte, Sozialleistungen oder die Rente des Partners die Einkünfte aufbessern.
Armut: Rund 31.000 Rentner in Sachsen-Anhalt haben weniger als 1.000 Euro monatlich
Präziser ist daher die Zahl des "Haushaltsnettoeinkommens", die das Statistische Landesamt mit dem Mikrozensus erhoben hat und die alle Einnahmen eines Haushalts berücksichtigt. Und da Altersarmut insbesondere Alleinlebende betrifft, sind hier insbesondere die Single-Haushalte interessant. Demnach leben laut repräsentativer statistischer Hochrechnung (Mikrozensus) in Sachsen-Anhalt zirka 30.600 Über-65-Jährige mit einem Haushaltseinkommen unter 1.000 Euro in Single-Haushalten. Hinzu kommen 39.000 alleinstehende Rentner mit einem Haushaltseinkommen zwischen 1.000 und 1.250 Euro. Damit ist der Kreis der akut von Altersarmut Betroffenen ziemlich exakt umrissen. Denn laut dem Bündnis deutscher Hilfsorganisation "Aktion Deutschland Hilft" gilt in der Bundesrepublik als armutsgefährdet, wer als Alleinstehender pro Jahr weniger als 13.628 Euro zur Verfügung hat.
Was ist mit Haushaltsnettoeinkommen gemeint?
Im Gegensatz zur Rente, die in vielen Fällen nur eine von mehreren Einkommensquellen von Rentnern ist, sind im Nettoeinkommen sämtliche Bezüge des letzten Monats enthalten. Dazu zählen bei alten Menschen zum Beispiel: Erwerbseinkommen, Unternehmereinkommen, Rente, Pensionen, öffentliche Unterstützungen, Einkommen aus Vermietung und Verpachtung, Grundsicherung oder Wohngeld. Da das Haushaltsnettoeinkommen mit dem Mikrozensus erhoben wird, handelt es sich um eine statistische Zahl, also eine Hochrechnung. Die Daten sind aber repräsentativ. Quelle: Statistisches Landesamt
Demgegenüber beziehen aktuell nur 8.835 Rentner in Sachsen-Anhalt Grundsicherung. Die Zahl hat die Linken-Fraktion im Bundestag beim Statistischen Bundesamt abgefragt. Ungefähr 14.000 Rentnerinnen und Rentner haben laut Statistischem Landesamt 2020 Wohngeld bezogen. Obwohl sehr wahrscheinlich noch weit mehr Senioren die Leistung erhalten könnten, ist ihr Anteil unter den Wohngeldempfängern bereits jetzt mitunter sehr groß. In Mansfeld-Südharz und Anhalt-Bitterfeld liegt er bei 65 Prozent.
Was Grundsicherung ist
Grundsicherung können Menschen beantragen, deren Einkünfte im Alter oder bei voller Erwerbsminderung nicht für den Lebensunterhalt ausreichen. Die Höhe hängt von Einkommen und Vermögen ab. Die Deutsche Rentenversicherung rät, man solle den Anspruch auf Grundsicherung prüfen lassen, wenn das Einkommen unter 924 Euro liege.
Paritätischer fordert 725 statt 502 Euro Grundsicherung im Monat
Aus Sicht des Paritätischen Gesamtverbands hat die Politik das Thema Altersarmut überhaupt und auch hinsichtlich der aktuellen Energiekrise nicht ausreichend im Blick. "Die Preise sind stärker als die Renten gestiegen, nur auf die Heizungs- und Energiekosten zielende Hilfen reichen nicht aus. Wir brauchen deshalb unbürokratische und gezielte Hilfen", so Joachim Rock. Die jüngste Erhöhung der Regelsätze in der Grundsicherung würden allenfalls einen Teil der Kostensteigerungen decken. Sie müssten laut Rock daher dringend bedarfsgerecht erhöht werden, auf 725 statt 502 Euro im Monat, für Ältere eher noch höher, rät der Experte. Er fordert zudem erleichterte Anträge und eine Mindestrente für langjährig Versicherte.
Neues Wohngeld als Chance
Die jüngsten Leistungserhöhungen beim Wohngeld stellen laut Paritätischem Gesamtverband deutliche Verbesserungen dar. Allerdings würden sich Grundsicherung und Wohngeld ausschließen, sagte Sprecher Joachim Rock MDR SACHSEN-ANHALT auf Nachfrage. Es gelte die für die Berechtigten günstigere Lösung, wobei Wohngeld vorrangig sei. "Da das Wohngeld im Schnitt von 180 auf 370 Euro erhöht und der Berechtigtenkreis zusätzlich in etwa verdreifacht wird, können Menschen in der Grundsicherung zum Teil mit dem Wohngeld von Grundsicherung unabhängig werden", so Rock.
Den Rentnern in fast leerstehenden Dessauer Blocks wäre laut Gabriele Perl vom ansässigen Mieterbund schon ohne diese Maßnahmen relativ einfach zu helfen. "Es bräuchte ein kommunales Umzugsmanagement, das die Leute an die Hand nimmt, über ihre Ansprüche aufklärt und die entsprechenden Anträge stellt." Nötig sei auch finanzielle Unterstützung bei Umzugskosten und Kautionen. Den politischen Willen dazu gebe es in der Stadt allerdings bisher nicht, sagt Perl.
Armutsbetroffene Rentner tun alles, um bürgerliche Fassade zu wahren
Erschwerend kommt hinzu, dass die Betroffenen äußerst zurückhaltend sind. Trotz wochenlanger Bemühungen, ließ sich daher keiner der mitten im Leerstand lebenden alten Menschen für ein Gespräch mit MDR SACHSEN-ANHALT gewinnen. "Die Betroffenen sind unsichtbar und sie beherrschen die Technik des Unsichtbarbleibens", erklärt Angelika Zaizek, die in Dessau mit dem Franztreff eine Begegnungsstätte für Bedürftige leitet. Auch sie kennt daher Fälle. Gemeinsam sei ihnen eine große Scham, wegen der sie eben auch keine Sozialleistungen bezögen. "Deshalb sitzen sie da fest in ihren Blocks und sind so einsam."
Ansehen würde man diesen Menschen ihre Armut dabei eher nicht. "Sie sind durchweg gut gekleidet und frisiert", weiß Zaizek: "Damit die Fassade gewahrt wird." Dafür seien die Rentnerinnen bereit, ihr letztes Geld aufzubringen und lieber etwas weniger zu essen. Seit der Energiekrise ist es bei ihr im Franztreff spürbar voller geworden, ergänzt Zaizek dann noch vielsagend.
MDR (Julia Bartsch, Daniel Salpius)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 17. Januar 2023 | 12:00 Uhr
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