Wohnungsnot und Obdachlosigkeit Diakonievorstand Bauer: "Wohnungslose Menschen leben eine versteckte Existenz."
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17. Januar 2023, 08:00 Uhr
Wohnungslosigkeit ist ein wachsendes Problem, auch in Sachsen. Dort meldeten sich 2022 mehr als 3.000 Menschen bei der Wohnungsnotfallhilfe der Diakonie. Vielen Menschen sieht man ihre Not nicht an, auch weil sie sich aus Scham viel Mühe geben, sie zu verstecken. Dietrich Bauer, Vorstandsvorsitzender der Diakonie Sachsen, spricht im Interview über die strukturellen Ursachen und darüber, was Wohnungsnot bedeutet - für die Betroffenen, aber auch für die Gesellschaft.
Die Diakonie Sachsen hat in dieser Woche ein neues Positionspapier zum Thema Wohnungslosigkeit veröffentlicht. Warum liegt Ihnen das Thema so am Herzen?
Menschen ohne ein Zuhause, ohne eine Wohnung - das ist, glaube ich, ein Problem, dessen Ausmaß und Wirkung der Öffentlichkeit gar nicht so bekannt sind. Dieses Problem also der Öffentlichkeit bewusst zu machen, das war der Anlass. Auch weil sich die Situation verschärft. Das lässt sich deutlich an den Zahlen ablesen.
Woran liegt es, dass sich die Situation verschärft?
Man denkt ja häufig, dass Menschen vor allem aus privaten oder persönlichen Gründen ihre Wohnung verlieren. Aber es hat natürlich auch etwas mit den Entwicklungen der letzten Jahre und aktuell auch der letzten Zeit zu tun.
Können Sie das konkretisieren?
Also es hat zum einen damit zu tun, dass sich die Situation auf dem Wohnungsmarkt zusehends verschärft. Dann gibt es viele Menschen, die mit weniger Geld auskommen müssen, durch die Inflation. Dazu kommt, dass in den letzten Jahren im Hinblick auf Sozialwohnungen kaum etwas unternommen wurde.
Auch Sozialwohnungen sind für Menschen an der Armutsgrenze teilweise nicht mehr bezahlbar.
Wozu hat das geführt?
Der Anteil der Sozialwohnung ist zurückgegangen. Sodass der Wohnraum für Menschen, die an der Armutsgrenze leben, teilweise nicht mehr bezahlbar ist. Das betrifft kleinere private Unternehmer, aber eben auch Alleinerziehende mit Kindern und überhaupt sozial gefährdete Bevölkerungsgruppen.
Und dann kann eben auch keine Wohnung zugewiesen werden und wenn man einmal aus dem System herausfällt, dann ist es ganz schwer, da wieder reinzukommen. Das hängt dann wiederum damit zusammen, dass das Thema natürlich höchst schambesetzt ist.
Wer sind denn die Menschen, die dann bei der Diakonie Hilfe suchen?
Das sind ganz verschiedene Menschen. Oft sind es Männer, aber auch Frauen und junge Familien kommen zu uns. In Sachsen sind derzeit 200 Familien mit Kindern von Wohnungslosigkeit bedroht, das muss man sich mal vorstellen. Letztlich kann es alle betreffen, aber natürlich insbesondere die, die unter geringen Einkommensverhältnissen leben müssen.
Was bedeutet das für einen Menschen, wenn er keine Wohnung hat?
Im Grunde genommen ist es eine Katastrophe. Wenn ich einmal ohne Wohnung bin, habe ich keine Adresse, ich verliere die Möglichkeit an Wahlen teilzunehmen. Es ist schambesetzt, ich verkrieche mich im wörtlichsten Sinne des Nachts in irgendwelche Ecken, um ungestört schlafen zu können. Und all die anderen Probleme, die ich vielleicht habe, werden verschärft - eine bestehende Suchtproblematik zum Beispiel.
Ich habe dann niemanden, der mich begleitet, ich falle aus allen sozialen Zusammenhängen. Und damit werden alle anderen Probleme quasi unhändelbar. Man lebt dann eine versteckte Existenz und das macht es so schwierig Leute, da auch wieder raus zu bekommen.
Unsere Interventionen zielen vor allem darauf, Menschen wieder in den sozialen Kreislauf eingliedern zu können. Und die Wohnung ist dafür der erste Schritt.
Wenn man es dennoch versucht - also die Leute da wieder rauszubekommen - wie geht man das am besten an?
Unsere Interventionen zielen vor allem darauf, Menschen wieder in den sozialen Kreislauf eingliedern zu können. Und die Wohnung ist dafür der erste Schritt. Wenn man eine Wohnung stellen könnte, dann wäre es möglich, dass man all die anderen Probleme schrittweise angeht. Bevor Menschen wohnungslos werden, hatten sie ja meist schon mit vielen anderen Schwierigkeiten und Problemen zu kämpfen. Es kommt übrigens auch unsere Gesellschaft teuer zu stehen, wenn Menschen auf der Straße leben.
Inwiefern?
Einerseits müssen sie ja begleitet werden in irgendeiner Weise, andererseits verlieren wir aber auch einfach gesellschaftlich einen Menschen, der wertvoll ist. Wenn es gut liefe, könnte dieser Mensch für seine Familie da sein, arbeiten, etwas für die Gesellschaft tun. Aber das Ziel ist es letztendlich Menschen wieder einzugliedern.
Wie schlimm ist denn das Problem der Wohnungslosigkeit in Sachsen?
In Sachsen sind es der Statistik nach, glaube ich, etwa 3.000 Personen, die betroffen sind. Aber man muss deutlich sagen, die Statistik hinkt der Wirklichkeit hinterher, weil es im Grunde genommen kein System gibt, um das wirklich zu erfassen.
Statistik zur Wohnungslosigkeit
Zum Stichtag 31. Januar 2022 waren in Deutschland rund 178.000 Personen wegen Wohnungslosigkeit untergebracht, beispielsweise in vorübergehenden Übernachtungsmöglichkeiten oder in Not- und Gemeinschaftsunterkünften.
Die 2022 erstmals durchgeführte Erhebung soll die Armuts- und Reichtumsberichterstattung des Bundes verbessern und als Informationsgrundlage für politisches Handeln dienen.
Nicht in die Erhebung einbezogen sind unter anderem Personen, die bei Freunden, Familien oder Bekannten unterkommen, und Obdachlose, die ohne jede Unterkunft auf der Straße leben. Personen, die zwar in einer Einrichtung untergebracht sind, deren Ziel aber nicht die Abwendung von Wohnungs- oder Obdachlosigkeit ist, sind ebenfalls nicht Teil der Erhebung.
Statistisches Bundesamt
Über unsere Beratungsstellen für Menschen ohne Wohnung stellen wir fest, dass es tatsächlich eine stark gestiegene Gefährdung gibt. Das hängt eben damit zusammen, dass die Menschen auch teilweise schon vor dem Ukraine-Krieg mit ihrem Einkommen an der Grenze waren.
Und es ist eben tatsächlich so, dass man vielen Menschen ihre Not auf den ersten Blick auch nicht ansieht. Obdachlosigkeit, da hat man ein Bild im Kopf von jemandem, der sich lange nicht rasiert hat, der riecht, der eine Flasche in der Hand hat, etwas heruntergekommene Kleidung möglicherweise. Viele Menschen in Wohnungsnot versuchen aber eben genau diesem Bild nicht zu entsprechen.
Wie helfen Sie bei der Diakonie den Menschen, die zu Ihnen kommen?
Wir beraten Sie erstmal zu den Unterstützungsmöglichkeiten, die es gibt. Wir haben ja einen Sozialstaat, der wirklich viele Hilfsmöglichkeiten bietet, aber es ist ein sehr komplexes System, das man nicht so einfach von selbst versteht. Man muss eben an verschiedenen Stellen Unterstützung beantragen, die Gesetze und Fristen kennen und dann am Ende des Tages auch die Formulare ausfüllen.
Es geht also darum, die Menschen über ihre Rechte zu informieren und ihnen auch zu helfen diese Rechte wahrzunehmen. Es geht hier ja nicht um eine Gnadengabe, sondern um ein Menschenrecht.
Das Zweite ist zu schauen, wie wir den Leuten ihre Wohnung erhalten oder eine Wohnung verschaffen können. In den größeren Städten steigen die Mietpreise, es gibt kaum Sozialwohnungen. Das heißt, die Leute müssen teils in den kleinstädtischen oder ländlichen Raum umziehen und werden da auch nochmal entwurzelt. Dafür eine Lösung zu finden, ist entscheidend, denn der Mensch ist ein Beziehungswesen, der gern in der Nähe der Menschen lebt, die ihm wichtig sind. Und dafür brauchst du Wohnraum.
Wir helfen den Leuten also Finanzierungsmöglichkeiten zu finden, die ihnen erlauben, in ihrer Wohnung zu bleiben, helfen zum Beispiel mit der Haushaltsführung. Wir unterstützen auch dabei Arzttermine zu machen, helfen den Leuten, sich gesund zu ernähren, und so weiter. Ziel ist, über ganz kleine Schritte zu einem selbstbestimmten Leben zu finden.
Was muss gesellschaftlich und politisch noch passieren?
"Housing First" ist ein wichtiger Ansatz. Dann muss genügend Geld zur Verfügung gestellt werden, um die Menschen angemessen zu begleiten. Und eine Frage steht über allem: Wie viel braucht ein Mensch zum Leben? Und das jetzige Bürgergeld, 502 Euro, reicht für einen Monat nicht. Also ja: Menschen erstmal finanziell so ausstatten, dass sie irgendwann dann besser für sich selbst sorgen können.
Und in der Gesellschaft ist die Einstellung wichtig, mit der wir wohnungslosen oder obdachlosen Menschen begegnen. Da wird gern gesagt 'selbst Schuld' - und damit wäre ich sehr vorsichtig. Das sind Menschen, die aus tragischen, komplizierten Lebenssituationen keinen Ausweg gefunden haben. Und diesem Umstand mit einem gewissen Respekt zu begegnen und die Bereitschaft zu helfen, finde ich sehr wichtig.
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 17. Januar 2023 | 19:00 Uhr
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