Sozialpolitik Bürgergeld und Grundsicherung: Gutachten empfiehlt Reform
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06. November 2023, 11:02 Uhr
Beim seit 2023 geltenden Bürgergeld und bei den Grundsicherungsleistungen für Aufstocker gibt es offensichtlich Konstruktionsfehler: Eigentlich angestrebter Zuverdienst zahlt sich in bestimmten Einkommensbereichen kaum aus – und kann sogar zu Nettoeinbußen führen. Gutachter kritisieren zudem Parallelstrukturen und Intransparenz.
- Gutachter kritisieren hohe Transferentzugsraten, dass Menschen also zu viel Geld entzogen wird, wenn sie Geld hinzuverdienen.
- Es gibt regional große Unterschiede beim Arbeitsanreiz.
- In München gibt es teils 1.000 Euro mehr Wohngeld als in Leipzig.
- Bei Zuverdienstgrenzen und Nettoeinkommen gibt es eine starke Intransparenz.
- Reformvorschlag: Einheitliches Sicherungssystem und Zuverdienst fördern
Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium empfiehlt eine Reform der sozialen Grundsicherung. Ein Gutachten sieht "große Defizite" bei der Abstimmung verschiedener Leistungen, insbesondere den Zuverdienstregeln. Denn: Geringverdiener haben bis zu bestimmten Einkommensgrenzen Anspruch auf Beihilfen. Grundsatz ist eigentlich, dass sich Arbeit lohnen soll und netto mehr einbringt als Sozialleistungen – doch die Praxis sieht teils anders aus.
Die Wissenschaftler untersuchten die Einkommensverläufe exemplarischer Haushaltstypen in München und Leipzig. Es wurde berechnet, welches Nettoeinkommen dem Haushalt bei verschiedenen Bruttoarbeitseinkommen bleibt, wenn er die maximalen Fürsorgeleistungen in Anspruch nimmt.
Hauptproblem sind hohe und intransparente Transferentzugsraten
Dabei zeigte sich, dass sich ein höheres Bruttoeinkommen in bestimmten Einkommensintervallen kaum lohnt, weil im Gegenzug Sozialleistungen zu stark abgeschmolzen werden. Im Extrembeispiel von Eltern mit zwei Kindern in München führte das zum paradoxen Ergebnis, dass bei einer Erhöhung des Bruttoeinkommens eines Elternteils zwischen 4.000 und 5.000 Euro sich die staatlichen Leistungen so stark verringern, dass der Familie netto einige Euro weniger bleiben.
Eine besondere Rolle spielen dabei regional unterschiedlich hohe Wohnkosten. Die Höhe der Abschmelzrate des Wohngeldes wird nach einer speziellen Formel errechnet. Der am Gutachten beteiligte Wirtschaftswissenschaftler Ronnie Schöb von der FU Berlin fasst für MDR AKTUELL zusammen: "Je höher die Miete, desto höher die Abschmelzrate."
Regional große Unterschiede bei den Arbeitsanreizen
Das Bürgergeld soll Arbeitslosen ein soziokulturelles Existenzminimum garantieren. Das schließt die sogenannten Kosten der Unterkunft ein, die Miete für eine angemessene Wohnung sowie Heizung und Warmwasser. Im zweiten Hilfesystem werden Menschen mit relativ geringem Einkommen ein Wohngeld-Zuschuss und zusätzliche Hilfen für Kinder gewährt. Laut dem Gutachten hat die unterschiedlich hohe Abschmelzrate des Wohngeldes aber zur Folge, "dass sich die bedarfsorientierte Grundsicherung für Geringverdiener-Haushalte gleichen Typs mit gleichem Bruttoeinkommen regional stark unterscheidet und zu großen Unterschieden bei den Arbeitsanreizen führt".
Bemängelt werden vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesjustizministerium auch die Intransparenz von Leistungen sowie bürokratische Auswüchse. Es sei für einzelne Empfänger kaum ersichtlich, welcher Anteil eines (zusätzlichen) Bruttoeinkommens behalten werden darf. Unterschiedliche Zuständigkeiten und Rechtskreise für die Förderinstrumente erschwerten die Beantragung der Leistungen sowie die Abstimmung der Systeme. Das könne dazu führen, dass Transferbezieher wiederholt zwischen beiden Grundsicherungssystemen wechseln müssen. Denn Bürgergeld, Wohngeld und Kindergrundsicherung sind jeweils bei anderen Bundesministerien angesiedelt.
Familie in München bekommt bis zu 1.000 Euro mehr Wohngeld als in Leipzig
Um dieses Problem zu veranschaulichen, werden in dem Gutachten Einkommensverläufe von drei Haushaltstypen in München und Leipzig verglichen, für:
- eine alleinstehende Person,
- Alleinerziehende mit einem Kind unter 6 Jahren,
- ein Ehepaar mit zwei Kindern zwischen 7 und 13 Jahren, bei dem ein Elternteil das gesamte Bruttoeinkommen erwirtschaftet und das Ehepaar die Einkommensteuer gemeinsam veranlagt.
Das Wohngeld wird bis zu einer lokalen Höchstgrenze als Zuschuss zur Bruttokaltmiete gezahlt. Die Tabelle gibt daneben auch die tatsächlichen, durchschnittlich übernommenen Kosten der Unterkunft an. Für Heizung und Warmwasser gibt es einen bundesweit einheitlichen pauschalen Zuschuss. Aufgrund höherer Durchschnittsmieten in München sind die veranschlagten Wohnkosten dort teils mehr als doppelt so hoch wie in Leipzig. In Leipzig sind es bei Alleinstehenden maximal 402 Euro, in München 945 Euro. Beim Ehepaar mit zwei Kinder sind es in Leipzig maximal 777 Euro, in München fast 1.000 Euro mehr. Entsprechend wachsen die Mindestbedarfe, aber auch die Entzugsraten bei wachsenden Einkommen: In Leipzig liegen sie für Familien bei etwa 24 Prozent, in München bei über 30 Prozent.
Leipzig | durchschnittliche KdU | maximale KdU | Mindestbedarf durchschnittlich | Mindestbedarf maximal |
---|---|---|---|---|
alleinstehend | 355 | 402 | 857 | 904 |
alleinerziehend mit einem Vorschulkind | 486 | 524 | 1.487 | 1.524 |
Eltern mit zwei Schulkindern | 668 | 777 | 2.266 | 2.375 |
München | durchschnittliche KdU | maximale KdU | Mindestbedarf durchschnittlich | Mindestbedarf maximal |
---|---|---|---|---|
alleinstehend | 575 | 945 | 1.077 | 1.447 |
alleinerziehend mit einem Vorschulkind | 788 | 1.216 | 1.789 | 2.217 |
Eltern mit zwei Schulkindern | 1.134 | 1.735 | 2.732 | 3.333 |
Zuverdienst-Grenzen beim Bürgergeld
Das Bürgergeld bietet durch die Hinzuverdienstregelungen Anreize, eine Arbeit aufzunehmen, seit 1. Juli 2023 mit folgenden Freibetragsstufen:
- Grundfreibetrag 100 Euro
- 1. Stufe - 20 Prozent (über 100 bis 520 Euro/Minijobgrenze)
- 2. Stufe - 30 Prozent (über 520 bis 1.000 Euro)
- 3. Stufe - 10 Prozent (über 1.200 Euro bzw. 1.500 Euro mit Kindern)
Daraus ergibt sich für ein Bruttogehalt von beispielsweise 1.200 Euro folgende Rechnung: (weitere Beispiele)
Vom Bruttoeinkommen 1.200 Euro bleiben abzüglich:
- 100 Euro Grundfreibetrag
- Freibetrag Stufe 1: 20% von 520 Euro = 84 Euro
- FB Stufe 2: 30% von 480 Euro = 144 Euro
- FB Stufe 3: 10% von 200 Euro = 20 Euro
- Es bleiben 348 Euro Gesamtfreibetrag zusätzlich zum Bürgergeld-Regelsatz
Dazu die Gutachter: Die Anrechnungsregelungen für Wohngeld und Kinderzuschlag bewirken Einkommensintervalle ohne oder nur mit geringem Arbeitsanreiz. Ab einem Bruttoeinkommen von 1.200 Euro (ohne Kind) und 1.500 Euro (mit Kind) werden zusätzliche Einkommen voll mit dem Bürgergeld verrechnet.
Entscheidende Faktoren bei der Berechnung von Grundleistungen sind also die Wohnkosten. So bleibt bei der vierköpfigen Familie in Leipzig vom höheren Bruttoeinkommen eines Elternteils zwar auch netto einiges übrig. Jedoch gibt es einen großen Einkommensbereich von 2.410 Euro bis 4.030 Euro, in dem der Leipziger Haushalt nur relativ wenig davon behalten kann. In München ergaben sich sogar zwei Lohnintervalle, in denen sich Mehrarbeit kaum lohnt oder sogar zu Nettoeinbußen führen kann.
Regionale Unterschiede beim Kinderzuschlag und zur Abdeckung des alltäglichen Bedarfs
Haushalte mit Kindern erhalten im zweiten Grundsicherungssystem vom Bund monatlich altersunabhängig je Kind 250 Euro Kindergeld und maximal 250 Euro Kinderzuschlag. Im Gegensatz zum Kindergeld wird der Kinderzuschlag bei steigendem Einkommen abgeschmolzen. Die entsprechende Transferentzugsrate hängt wie beim Wohngeld von der individuellen Lebenssituation ab. Für die beschriebenen Musterhaushalte mit Kindern liegt der Transferentzug im Schnitt zwischen 18 Prozent und 28 Prozent.
Das Gutachten zeigt auf, dass vergleichbare Haushalte in unterschiedlichen Orten hinsichtlich des alltäglichen Bedarfs ungleich behandelt werden. Haushalte in Leipzig und München haben nach Abzug der kompletten Warmmiete im zweiten Grundsicherungssystem bei maximaler Förderung mit Wohngeld, Kinderzuschlag und Kindergeld unterschiedlich viel Geld zur Abdeckung des alltäglichen Bedarfs zu Verfügung. So hat die vierköpfige Leipziger Familie bei einem Bruttoeinkommen von 2.400 Euro über 600 Euro im Monat mehr für die alltäglichen Ausgaben zur Verfügung als die Münchener Familie.
Die Gutachter kritisieren: "Dauerhaft werden die unterschiedlichen zeitlichen Fortschreibungen von Regelsätzen, den Höchstsätzen bei Wohnkosten und der Anpassung des Wohngeldes dazu führen, dass Transferbezieher unter Umständen wiederholt zwischen den zwei Grundsicherungssystemen wechseln müssen. Damit sind sie mit wechselnden Ansprechpartnern in der Verwaltung konfrontiert."
Reformvorschlag: Ein Grundsicherungssystem, ein Wohngeld, niedrigere Transferentzugsraten
Angesichts dieser Verwerfungen schlägt der Wissenschaftliche Beirat vor, die zweigeteilte Grundsicherung bei Einführung der geplanten Kindergrundsicherung zu vereinheitlichen und die Transferleistungen gerechter zu gestalten. Zugleich müssten die Hinzuverdienstregelungen transparenter werden und ein Wechsel in sozialversicherungspflichtige Jobs besser gefördert werden. Im Kern wird empfohlen:
- Das neue Bürgergeld umfasst nur noch den alltäglichen Bedarf für Erwachsene entsprechend der aktuellen Regelbedarfsstufen 1 bis 3.
- Die neue Kindergrundsicherung soll Regelbedarfsleistungen sowie Kindergeld und Kinderzuschlag bündeln und aus einem einkommensunabhängigen Garantiebetrag und einem Zusatzbetrag bestehen. Der Zusatzbetrag wird wie die aktuellen Regelbedarfe und der Kinderzuschlag mit steigendem Einkommen abgeschmolzen.
- Die Kindergrundsicherung sollte ausschließlich den alltäglichen Bedarf Minderjähriger abdecken und, anders als geplant, keine speziellen Zuschüsse wie eine Kinderwohnkostenpauschale enthalten. So wird eine doppelte Förderung der Wohnkosten bei Kindern vermieden.
- Die Kosten der Unterkunft (Bürgergeld) und das Wohngeld (zweites Grundsicherungssystem) werden in einem neuen Wohngeld zusammengefasst. Dabei gibt es wie bisher regional differenzierte Höchstgrenzen und es wird mit steigendem Einkommen abgeschmolzen.
Der aufwändigste Reformschritt ist aus Sicht der Forscher die Bündelung zu einem Wohngeld, weil Bund und Länder die Finanzierung neu regeln müssten. Um Arbeitsanreize zu fördern, empfiehlt der Wissenschaftliche Beirat niedrigere Transferentzugsraten für sozialversicherungspflichtige Arbeit.
(Der Artikel wurde am 5. November 2023 mit einer präziseren Unterscheidung der Übernahme der Kosten für die Unterkunft beim Bürgergeld und den Wohngeld-Zuschüssen für Aufstocker aktualisiert. Mehr dazu vom Bürgergeld-Verein)
Dieses Thema im Programm: MDR S-ANHALT | FAKT IST aus Magdeburg | 07. November 2023 | 22:10 Uhr
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