Gesetzentwurf der Ampel-Koalition Abgeordnete fordern weniger Egoismus bei Wahlrechtsreform

21. Januar 2023, 05:00 Uhr

Mehr als 900 Abgeordnete könnte der Bundestag nach künftigen Wahlen haben. Mit der Wahlrechtsreform soll die Zahl auf höchstens 598 festgesetzt werden – indem die Verhältniswahl gestärkt wird. Experten zufolge eine sinnvolle Konsequenz einer veränderten Parteienlandschaft. "Weniger Egoismus" fordern auch zwei Bundestagsabgeordnete aus Sachsen, die nach dem Entwurf 2021 den Einzug ins Parlament verpasst hätten.

MDR AKTUELL Mitarbeiterin Rebecca Nordin Mencke
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Franziska Mascheck sitzt für die SPD im Leipziger Land im Bundestag, den Einzug schaffte sie über die Landesliste als Ausgleichsmandat. Zusammen mit dem Wahlkreissieger Edgar Naujok von der AfD ist das Leipziger Land seit der letzten Bundestagswahl mit zwei Abgeordneten vertreten. Nach den jetzigen Plänen für eine Wahlrechtsreform wäre der Wahlkreis dagegen komplett leer ausgegangen – bundesweit beträfe das fünf Wahlkreise, davon drei im Osten. Das ergab eine Analyse der "ZEIT".

Bei einer Wahlrechtsreform geht es nicht um persönliche Positionen, sondern um das gesamte Land.

Franziska Mascheck SPD-Bundestagsabgeordnete, Leipziger Land

Mascheck unterstützt den Gesetzentwurf trotz des für sie theoretisch nachteiligen Ergebnisses: "Bei einer Wahlrechtsreform geht es nicht um persönliche Positionen, sondern um das gesamte Land und um die Vertreter und Vertreterinnen der Demokratie", sagte sie MDR AKTUELL. Der Bundestag müsse zumindest annähernd bei seiner Regelgröße landen. "Wir können nicht zulassen, dass er sich immer weiter aufbläht."

Schwächung von Wahlkreisstimmen sorgt für Kritik

598 Mandate soll künftig die festgelegte Größe des Bundestags sein – so viele wie ursprünglich vorgesehen. Das zuletzt stetige Anwachsen durch Überhang- und Ausgleichsmandate wegfallen. Das entstand durch das Spannungsverhältnis aus personalisierter Wahl der Kandidierenden in den Wahlkreisen und dem Verhältniswahlsystem.

Auf Kritik stoßen die Reformpläne aber nicht nur in der Opposition, sondern auch in den Reihen der Ampel-Koalition selbst. Maschecks Parteikollege Erik von Malottki hatte 2021 seinen Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern als Erststimmen-Sieger geholt, wäre nach den Reformplänen aber ebenfalls raus. Dass gerade die spannendsten Wahlkämpfe um einzelne Wahlkreise wegfallen sollen und Wahlkreise auch ohne Mandate bleiben können, wertete er in der "ZEIT" als eine Schwächung der Demokratie insbesondere im Osten.

Die Reformpläne Bisher zählt bei Bundestagswahlen die Erststimme für einen Kandidaten oder eine Kandidatin im jeweiligen Wahlkreis, die Zweitstimme fließt ins Gesamtergebnis der Partei und entscheidet über die Mehrheitsverhältnisse.

Die Reformpläne sehen vor, dass eine Hauptstimme für eine Partei künftig entscheidend für das Wahlergebnis sein soll. Daran wird festgelegt, wie viele Mandate eine Partei erhält. Die Sitze werden zunächst anhand der jeweiligen Landesliste besetzt. Erst, wenn die Landesliste nicht ausreicht, fällt die zweite Stimme als Wahlkreisstimme ins Gewicht: die erfolgreichste Kandidatur eines Wahlkreises stellt damit eine Art Reservoir für Nachrückerinnen und Nachrücker dar. Ausgleichs- und Überhangmandate fallen damit weg.

Taher Saleh: Wahlkreissieger stehen selten für 50 Prozent

Mit dem Grünen-Politiker Kassem Taher Saleh aus Dresden unterstützt ein weiterer Bundestagsabgeordneter die Reformpläne, obwohl er damit 2021 wie Mascheck und von Malottki den Einzug ins Parlament verpasst hätte. Taher Saleh verweist nicht nur auf die Expertise der Verfassungsrichter, die an dem Gesetzentwurf mitgearbeitet haben. Auch die Wahlkreisstimme sieht er in Teilen als problematisch an.

Deutschlandweit gibt es nur einen Wahlkreis, in dem tatsächlich über 50 Prozent der Wählerinnen und Wähler hinter dem Mandat stehen.

Kassem Taher Saleh Grünen-Bundestagsabgeordneter, Dresden
Kassem Taher Saleh (B90/GRÜNE)
Kassem Taher Saleh. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

"Deutschlandweit gibt es nur einen Wahlkreis, in dem tatsächlich über 50 Prozent der Wählerinnen und Wähler hinter dem Mandat stehen. Alle anderen direkt gewählten Abgeordneten sind nicht mit einem Großteil der Stimmen gewählt worden." Eine Stärkung der Parteistimme findet er daher sinnvoll – und es sei das einzig rechtlich mögliche Mittel, um die Regelgröße zu erreichen.

Vorländer: Politikverständnis im Osten stark durch Personen geprägt

Hans Vorländer
Hans Vorländer. Bildrechte: TU Dresden

Dennoch gibt auch der Politikwissenschaftler Hans Vorländer, Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung an der TU Dresden, eine Beobachtung zu bedenken: In Ostdeutschland sei das Politikverständnis stark durch Personen geprägt. "Hier erzielen besonders prominente Personen meist ein besseres Wahlergebnis und die Skepsis gegen Parteien ist aus der DDR-Erfahrung größer."

In Westdeutschland dagegen gebe es stärkere Parteibindungen, die von Milieus geprägt seien. Um die Bedeutung des derzeitigen Gesetzentwurfs für den Osten zu analysieren, müssten aber viele unterschiedliche Faktoren berücksichtigt werden, betont Vorländer. Allein anhand der vergangenen Bundestagswahl lasse sich das nicht nachrechnen.

Demokratiearbeit ist nicht nur Aufgabe von Abgeordneten

Die SPD-Abgeordnete Mascheck sieht den Osten mit den jetzigen Plänen nicht grundsätzlich benachteiligt. Dass bei den Wahlen 2021 hier überdurchschnittlich viele Wahlkreise ohne Abgeordnete ausgegangen wären, hält sie für einen Zufallsbefund. "Wenn man andere Wahlergebnisse zugrunde legt, dann wäre das nicht der Fall", meint sie und verweist darauf, dass sich die Reduzierung der Abgeordneten auf alle Regionen und Parteien in Deutschland verteile.

Eine Schwächung der Demokratie sieht Mascheck in den Plänen nicht. "Wenn wir beim Kampf gegen demokratiegefährdende Strukturen sind, kommt es auf alle demokratischen Akteure an, nicht nur auf die gewählten Abgeordneten", betont die SPD-Politikerin. Wichtig seien daher politische Bildung und gelebte Beteiligung an lokalen und demokratischen Prozessen.

Beim Kampf gegen demokratiegefährdende Strukturen kommt es auf alle demokratischen Akteure an.

Franziska Mascheck, SPD Bundestagsabgeordnete

Auch Taher Saleh will die Diskussionen um das Wahlrecht und um Demokratiearbeit im Osten voneinander trennen. So biete der Rechtsstaat bereits verschiedene Möglichkeiten, um beispielsweise Rechtsextremismus zu bekämpfen. "Es ist aber nicht Sinn und Zweck des Wahlrechts, irgendeine Partei oder Fraktion zu diskriminieren", sagt er.

Kluth: Verfassungsrechtlich ein schlüssiges Modell

Die stärkere Bedeutung der Verhältniswahl sei in der Tat ein Richtungswechsel in der Tradition des Wahlrechts, erklärt Winfried Kluth, Professor für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und ehemaliger Richter am Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt. Dennoch sieht er die Pläne als folgerichtig angesichts einer veränderten Parteienlandschaft an. Auch lasse sich aus dem Grundgesetz kein Zwang ableiten, dass aus jedem Wahlkreis ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete kommen müsse.

"Aus der verfassungsrechtlichen Sicht ist das ein schlüssiges und meines Erachtens tragfähiges Modell", sagt Kluth. Als Gegenbeispiel nennt er Sachsen-Anhalt: Dort ist in der Landesverfassung die personalisierte Verhältniswahl festgeschrieben – für eine Änderung wäre in diesem Fall also eine Verfassungsänderung notwendig. Das Grundgesetz dagegen lässt die genaue Ausgestaltung von Wahlen offen. Für eine größere Rechtssicherheit wäre es aus Sicht von Kluth zwar von Vorteil, etwa die Höchstzahl der Abgeordneten ins Grundgesetz zu schreiben. Dafür wäre die Koalition allerdings aus Stimmen aus der Opposition angewiesen. Politikwissenschaftler Hans Vorländer ist skeptisch: "Ich sehe keine verfassungsändernde Mehrheit für die Aufnahme des Wahlrechts in das Grundgesetz."

Artikel 38 Grundgesetz (1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
(2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.
(3) Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz.

MDR AKTUELL

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 17. Januar 2023 | 06:00 Uhr

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