Faktencheck Warum die Menschen früher in Rente gehen
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16. Dezember 2022, 09:14 Uhr
Bundeskanzler Olaf Scholz möchte, dass mehr Bürger bis zur gesetzlichen Altersgrenze arbeiten. CDU-Chef Friedrich Merz sieht ein zentrales Problem in der "Rente mit 63". Die Gründe für frühzeitige Renteneintritte sind jedoch vielfältig. Zugleich gibt es mehrere Anreize, um längeres Arbeiten zu fördern.
Mit wenigen Worten hat Bundeskanzler Olaf Scholz vergangenes Wochenende eine Rentendebatte ausgelöst. Der SPD-Politiker sagte den Zeitungen der "Funke-Mediengruppe" und der französischen Zeitung "Ouest-France" am Sonntag:
Es gilt, den Anteil derer zu steigern, die wirklich bis zum Renteneintrittsalter arbeiten können. Das fällt vielen heute schwer.
Unter anderem die Union und Arbeitgeberverbände nahmen Scholz‘ Äußerungen zum Anlass, Möglichkeiten des vorgezogenen Renteneintritts zu kritisieren, insbesondere die sogenannte "Rente mit 63". So sagte etwa CDU-Chef Friedrich Merz mit Blick auf dieses "Lieblingsprojekt der SPD", er begrüße, dass der Kanzler "das Problem erkannt hat, dass die Zahl der Frühverrentungen damit sehr viel höher geworden ist als seinerzeit angenommen".
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger nahm die Worte des Kanzlers ebenfalls auf und sagte: "Der Bundeskanzler hat Recht: Es darf keinen Trend zur Frühverrentung geben." Scholz solle dafür sorgen, "dass sein Arbeitsminister jetzt schnellstmöglich die milliardenschwere Subventionierung der Frühverrentung beendet". Auch Dulger spielte damit auf die abschlagsfreie Rente nach einer Versicherungszeit von 45 Jahren an.
Doch drückt die "Altersrente für besonders langjährig Versicherte", wie die "Rente mit 63" offiziell heißt, tatsächlich das durchschnittliche Renteneintrittsalter? Ist sie ein wesentlicher Grund dafür, warum viele Menschen nicht bis zur regulären Altersgrenze arbeiten? Der Faktencheck zeigt: Die Realität ist komplizierter. Vorzeitige Renteneintritte haben mehrere Ursachen.
Stichwort: "Rente mit 63"
Nach einer Versicherungszeit von 45 Jahren können Rentenversicherte grundsätzlich früher in Rente gehen. Diese "Altersrente für besonders langjährig Versicherte" wird oft noch "Rente mit 63" genannt, weil alle vor 1953 Geborenen ohne Abschläge mit 63 Jahren in Rente gehen konnten.
Alle später Geborenen können die Möglichkeit aber erst in einem höheren Alter nutzen, weil das allgemeine Renteneintrittsalter schrittweise angehoben wird.
Ist Ihr Geburtsjahrgang 1964 oder später, können sie erst mit 65 Jahren in die "Altersrente für besonders langjährig Versicherte" gehen. Für ältere Jahrgänge gab und gibt es schrittweise Erhöhungen.
Deutsche Rentenversicherung
Viele nutzen "Rente mit 63"
Zunächst ist korrekt, dass viele Männer und Frauen die Möglichkeit der abschlagsfreien Rente nach 45 Jahren Versicherungszeit in Anspruch nehmen. Beinahe jeder dritte Neu-Rentner (31,3 Prozent) wählte im Jahr 2021 diesen Weg, wie erst am Samstag das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) mitteilte – was vermutlich auch Hintergrund der Aussagen des Bundeskanzlers war.
Das ist ein enormer Anteil. Noch drastischer stellt sich die Situation dar, wenn noch die anderen Versicherten hinzugerechnet werden, die frühzeitig in Rente gehen. Unterm Strich erreichen weniger als die Hälfte (41,8 Prozent) der Menschen die Regelaltersrente.
In der Folge stagniert das durchschnittliche Zugangsalter in die Rente seit etwa zehn Jahren – trotz des sich nach und nach vollziehenden Anstiegs der Rentenaltersgrenze auf 67 Jahre. Es liegt für Frauen bei 64,2 Jahren und bei Männern bei 64,1 Jahren. Die "Rente mit 63", die es erst seit 2014 gibt, hat also zumindest nicht für ein deutliches Absinken gesorgt. Kritiker könnten jedoch entgegenhalten, dass das Eintrittsalter ohne Einführung der "Rente mit 63" weiter gestiegen wäre.
Immer mehr nehmen Abschläge in Kauf
Daten der Deutschen Rentenversicherung sprechen außerdem dafür, dass der Wunsch für einen frühen Renteneintritt losgelöst von der "Rente mit 63" existiert. Ein Beleg dafür: Seit Jahren steigt die Zahl der Menschen, die Abschläge in Kauf nehmen, um früher in Rente gehen zu können. Die Gruppe machte unter allen, die 2021 erstmals eine Altersrente bezogen, etwa ein Viertel aus (24,5 Prozent). Im Durchschnitt verzichten die Menschen auf 110 Euro monatlich.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass knapp die Hälfte der Deutschen gar nicht aus dem Beruf oder der Altersteilzeit in die Rente wechselt. Viele sind schon vorher arbeitslos, krank, im Hartz-IV-Bezug oder bei Arbeitsförderungsmaßnahmen. Andere leben von anderen Einkünften oder dem Einkommen des Partners. Nur 45,7 Prozent der rund 840.000 Neu-Rentner des Jahres 2021 waren im Jahr vorher sozialversicherungspflichtig beschäftigt.
Die Menschen wollen einfach früh raus und wenn der Staat die Möglichkeit gibt, dann wird die genutzt.
Bei alledem unberücksichtigt sind übrigens die jährlich etwa 180.000 Menschen, die neu in die Erwerbsminderungsrente kommen und den Arbeitsmarkt ebenfalls verlassen haben.
Arbeitsforscher: "Die Menschen wollen einfach früh raus"
Der Arbeitswissenschaftler Hans Martin Hasselhorn von der Universität Wuppertal kennt Geschichten von Ketten-Krankschreibungen oder der Arbeitslosigkeit kurz vor dem möglichen Renteneintritt, die dem Übergang dienen. "Viele Menschen suchen sich ihren Weg, um rauszukommen", konstatiert der Experte. Mit Blick auf die "Rente mit 63" sagt er: "Die Menschen wollen einfach früh raus und wenn der Staat die Möglichkeit gibt, dann wird die genutzt."
Hasselhorn hat in einem Langzeitprojekt Angehörige der Generation der Babyboomer nach ihren Vorstellungen und Plänen zur Rente befragt. Es geht um die geburtenstarken Jahrgänge der 1950er- und 1960er-Jahre, die nun in Rente gehen. Deutschlandweit befragten die Wissenschaftler mehrfach repräsentativ 9.000 Erwerbstätige der Jahrgänge 1959 und 1965. Als zentrales Ergebnis nennt Hasselhorn: "Von den seinerzeit 53 und 59-Jährigen, die wir befragt haben, wollten nur zehn Prozent bis zu ihrer Regelaltersgrenze von 66 oder 67 arbeiten."
Dieser Befund sei unabhängig von Gesundheit und Arbeitsfähigkeit. Auch von den Gesunden wollten demnach nur 12 Prozent bis zur Regelaltersgrenze arbeiten.
Hauptmotiv: mehr freie Zeit
Als Gründe für den Rentenwunsch gaben die meisten Befragten an, "mehr freie Zeit" haben zu wollen. Viele meinten zudem, dass "irgendwann Schluss sein" müsse. Erst mit Abstand nannten sie als Grund für den frühen Ausstiegswunsch eine vorhandene finanzielle Absicherung, eine zu anstrengende Arbeit oder gesundheitliche Gründe.
Mit Blick auf verschiedene Berufsgruppen zeigten sich erwartungsgemäß große Unterschiede. So wurden die Gründe "anstrengende Arbeit" und "gesundheitliche Probleme" von Personen in Pflegeberufen doppelt so oft genannt wie von Personen in Verwaltungstätigkeiten.
Anreize: Flexible Arbeitszeiten und Qualifizierung
Es ist allerdings kein Naturgesetz, dass Menschen mit 64 Jahren oder früher in Rente gehen. 75 Prozent der Menschen aus der oben genannten Befragung sagen etwa, dass ihnen ihre Arbeit viel bedeutet. Gegen eine solche Gesetzmäßigkeit spricht außerdem die hohe Zahl von Rentnerinnen und Rentnern, die weiter erwerbstätig sind oder sich ehrenamtlich engagieren – sehr viele davon nicht aus finanziellen Gründen. Nach Ansicht von Fachleuten kommt es deshalb auf die Bedingungen an, unter denen die Erwerbstätigkeit stattfindet. Von zentraler Bedeutung seien flexible Arbeitszeitmodelle.
Der Sozialexperte Florian Blank von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung sieht noch weitere Stellschrauben. Er sagte dem MDR: "Wenn wir Menschen dazu bringen wollen, länger zu arbeiten, und dazu auch eine freie Entscheidung zu treffen, müssen wir früher ansetzen". Gefragt seien Weiterbildungen und Qualifizierungen für neue Aufgaben sowie ein verbesserter Gesundheitsschutz für ältere Arbeitnehmer.
Blank fordert zudem mehr Offenheit von den Arbeitgebern: "Vielleicht nicht nur nach dem neuen, frisch ausgebildeten Bewerber suchen, sondern auch Ältere einstellen und für einen Job qualifizieren, wo es auf den ersten Blick noch nicht so passt."
Fazit: "Rente mit 63" nicht Ursache des Problems
Die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren, also die "Rente mit 63", gibt vielen Menschen die Möglichkeit, ohne Verluste in die vorzeitige Altersrente zu gehen. Sie sorgt so sicherlich für frühzeitigere Renteneintritte – wobei es dazu keinen genauen Schätzungen gibt.
Allerdings bedient das Modell lediglich den schon vorher bestehenden Wunsch vieler Menschen, vor der gesetzlichen Altersgrenze in Rente zu gehen. Ohne die "Rente mit 63" würden möglicherweise noch mehr Menschen Abschläge in Kauf nehmen, um sich den Traum vom Ruhestand zu erfüllen – insofern dies finanziell für sie verkraftbar ist. Andere würden – wie bislang auch – vermutlich alternative Wege suchen, um die Zeit bis zur Altersgrenze zu überbrücken, sei es im Arbeitslosengeldbezug oder im Krankenstand.
Um Menschen länger im Arbeitsleben zu halten, empfehlen Fachleute andere Maßnahmen als die Abschaffung der "Rente mit 63". Mehr frühzeitige Weiterbildung und Qualifizierung, flexible Arbeitszeitmodelle und eine generell andere Kultur im Umgang mit älteren Beschäftigten könnten Bausteine sein, um das durchschnittliche Renteneintrittsalter weiter zu erhöhen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 15. Dezember 2022 | 21:45 Uhr
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