Ein Altenpfleger hilft in der Seniorenresidenz Dahlke in Bad Bevensen (Niedersachsen) einer Bewohnerin beim Fruehstueck.
Die Pflege alter und kranker Menschen, aber auch pflegebedürftiger Kinder, ist eine zusätzliche Herausforderung für Millionen Familien in Deutschland. Mit der Pflegereform sollen sie nun entlastet werden. Kritiker sehen im neuen Gesetz nur den sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein. Bildrechte: picture alliance / dpa Themendienst | Markus Scholz

Abstimmung im Bundestag Pflegereform beschlossen: Das steht im neuen Gesetz

26. Mai 2023, 05:00 Uhr

Deutschland 2023: Immer mehr alte Menschen, die pflegebedürftig werden. Immer weniger junge Menschen, die in die Pflegeversicherung einzahlen. Pflegepersonal ist knapp. Plätze in Pflegeheimen sind mit rund 2.400 Euro pro Monat teuer und für viele nicht leistbar. Das "Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetz" soll Abhilfe schaffen. Geplant sind mehr finanzielle Hilfen und der Abbau bürokratischer Hürden. Doch schon vorab gab es Kritik von Sozialverbänden und Fachpolitikern.

Carolin Voigt, Reporterin, Redakteurin und Sprecherin
Bildrechte: MDR/Karsten Möbius

Der Bundestag hat am Freitag die Reform der Pflegeversicherung beschlossen. In namentlicher Abstimmung votierten 377 Abgeordnete für das Gesetz, 275 dagegen und zwei enthielten sich. Die Opposition lehnte die Reform ab. Gesundheitsminister Karl Lauterbach verteidigte das Vorhaben, auch wenn es "kein perfektes Gesetz" sei.

Mit dem Gesetz soll die Pflegeversicherung vorerst bis 2025 finanziell abgesichert werden. Unter anderem beinhaltet es eine Steigerung des Pflegegelds für pflegende Angehörige um fünf Prozent im kommenden Jahr. Außerdem wird es einfacher, Hilfe für eine Auszeit bei der häuslichen Pflege zu erhalten. Zur Finanzierung des Mehrbedarfs von gut sechs Milliarden Euro steigen die Beiträge ab 1. Juli an.

Entlastungsbudget für pflegende Angehörige

Vier der insgesamt fünf Millionen Pflegebedürftigen werden von Angehörigen versorgt. Das sogenannte Entlastungsbudget soll ihnen helfen und bis zum 1. Juli 2025 kommen. Dann können Betroffene und ihre Angehörigen die Leistungen der Verhinderungspflege (bisherige Leistung: bis zu 1.612 Euro) und Kurzzeitpflege (bis zu 1.774 Euro) flexibel kombinieren und Leistungen im Umfang von 3.539 Euro unbürokratisch nutzen.

So können die Pflegenden eine Auszeit nehmen. Die Pflege bleibt währenddessen sichergestellt. Für Eltern von pflegebedürftigen Kindern mit Pflegegrad 4 oder 5 steht dieses Entlastungsbudget schon ab dem 1. Januar 2024 in Höhe von 3.386 Euro zur Verfügung und steigt bis zum Juli 2025 auch auf 3.539 Euro an.

Sie wisse, dass das nicht ausreiche, sagt die FDP-Obfrau im Gesundheitsausschuss Nicole Westing dem ARD-ZDF-Morgenmagazin. Aber "das ist zumindest ein kleiner Schritt, ihnen mehr Flexibilität zu geben, wenn sie eine Auszeit brauchen. Sei es, weil sie selbst Urlaub machen wollen oder einen Krankenhausaufenthalt vornehmen wollen."

Westings FDP war es, die das Entlastungsbudget kurz vor der Beschlussfassung im Bundestag gekippt hatte, obwohl das Budget im Koalitionsvertrag vereinbart worden war. Nach heftigem Protest der Grünen und von Sozialverbänden hat das Entlastungsbudget dann doch wieder den Weg ins Gesetz gefunden.


Ersatzpflege und Kurzzeitpflege Macht die private Pflegeperson Urlaub oder ist sie durch Krankheit oder aus anderen Gründen vorübergehend an der Pflege gehindert, übernimmt die Pflegeversicherung für Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 die nachgewiesenen Kosten einer notwendigen Ersatzpflege, der sogenannten Verhinderungspflege, für längstens sechs Wochen je Kalenderjahr.

Die vollstationäre Kurzzeitpflege kann in Anspruch genommen werden, wenn die häusliche Pflege zeitweise nicht oder nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden kann. Die Leistung der Pflegeversicherung für die Kurzzeitpflege unterscheidet sich betragsmäßig nicht nach Pflegegraden, sondern steht allen Pflegebedürftigen der Pflegegrade 2 bis 5 in gleicher Höhe zur Verfügung.  Bundesgesundheitsministerium

Anhebung des Pflegegeldes

Pflegegeld bekommen Pflegebedürftige, wenn sie nicht in einem Heim, sondern zu Hause gepflegt werden. Je nach Pflegegrad sind das pro Monat 316 und 901 Euro. Zum Januar 2024 soll das Pflegegeld um fünf Prozent angehoben werden. Ab Januar 2025 wird es dann nur noch eine Dynamisierung von 4,5 Prozent geben.

Hier wurde in letzter Minute herunter geregelt, um die Kosten für das Entlastungsbudget abzufangen. Das sogenannte Pflegeunterstützungsgeld können Angehörige künftig jährlich beantragen. Bislang konnte sich jede Pflegende Privatperson einmalig insgesamt zehn Tage vom Job freistellen lassen, um eine Angehörige zu pflegen. Nun soll es jedes Jahr zehn Tage Pflegeunterstützungsgeld als Lohnersatzleistung geben.

Steigende Versicherungsbeiträge

Um die Kosten der Pflegereform zumindest zum Teil gegen zu finanzieren, steigt der Beitrag zur Pflegeversicherung zum 1. Juli dieses Jahres, allerdings nicht für alle im gleichen Maß. Kinderlose zahlen dann vier Prozent des Bruttoeinkommens in die Pflegeversicherung. Für Eltern steigt der Beitragssatz von derzeit 3,05 Prozent auf 3,4 Prozent. Ab dem zweiten Kind müssen sie jeweils ein viertel Prozent weniger Pflegebeitrag zahlen.

Zuschläge für Heimbewohner sollen steigen

Für Menschen im Pflegeheim sollen die sogenannten Entlastungszuschläge ebenfalls zum 1. Januar 2024 angehoben werden und somit die Kosten für die Heimunterbringung senken. Bisher (seit 2022) drückte der Entlastungszuschlag den Eigenanteil um fünf Prozent im ersten Jahr, um 25 Prozent im zweiten Jahr, um 45 Prozent im dritten und um 70 Prozent ab dem vierten Jahr.

Mit dem neuen Gesetz geht die Staffelung so: 15 Prozent weniger im ersten Jahr, 30 Prozent im zweiten, 50 Prozent im dritten Jahr und 75 Prozent weniger Eingenkosten ab dem vierten Jahr.

"Rückführung des Einsatzes von Leiharbeit auf das notwendige Maß"

Leiharbeit in der Pflege boomt. Doch sie ist teuer, sorgt für Mehrkosten und führt oft zu Unmut bei Stammbeschäftigten, die weniger Geld bekommen, sich aber besser auskennen in der Einrichtung. Das neue Gesetz soll nun dafür sorgen, dass sich Leiharbeit in der Pflege nicht mehr lohnt. Es brauche künftig "sachliche Gründe", wenn höhere Kosten für Leiharbeit, zum Beispiel für Gehälter, abgerechnet werden sollen.

Bestimmung des Pflegegrads

Gesundheitsminister Lauterbach hatte die Regelungen zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit in der Vergangenheit als "komplex und intransparent bezeichnet. Das Verfahren soll "übersichtlicher und adressatengerechter" werden.

Eine neue Möglichkeit, die das Gesetz vorsieht: Medizinische Dienste sollen künftig auch per Telefoninterview feststellen dürfen, ob jemand pflegebedürftig ist oder nicht.

Reform als unzureichendes "Reförmchen" kritisiert

Die Union wirft der Koalition untaugliche Reparaturversuche am eigenen Entwurf und "Taschenspielertricks" vor. "Das zusätzliche Geld für das Entlastungsbudget wird den Pflegebedürftigen bei den Pflegeleistungen wieder entzogen", sagte Gesundheitsexperte Tino Sorge (CDU). Die Deutsche Stiftung Patientenschutz warnte: "Nach sechs Jahren Stillstand liegt die häusliche Pflege der vier Millionen betroffenen Menschen am Boden." Doch das Entlastungsbudget komme erst im Juli 2025, kritisierte Vorstand Eugen Brysch.

Patientenschützer Brysch kritisiert auch die Gegenfinanzierung. Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) sagte er, schon die eigentlich geplante Anhebung um fünf Prozent ab 2024 sei ein Bruch politischer Versprechen gewesen. Die Regierung habe der Bevölkerung die Zusage gegeben, eigentlich schon ab 2022 die Leistungen regelhaft an die Preissteigerungen anzupassen.

"Selbst wenn jetzt das gemeinsame Entlastungsbudget für die Verhinderungs- und Kurzzeitpflege kommen soll, dürfen andere Minimalzusagen der Koalition dafür nicht geopfert werden", mahnte Brysch. Er apelliert an "die Vernunft der Abgeordneten", die Reform in der Form nicht zu beschließen.

Auch der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, hält die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vorgelegte Pflegereform für unzureichend und bezeichnet sie als "halbgar". Dem RND sagte Schneider, für die stationäre Pflege würden Zuzahlungen von im Durchschnitt über 2.000 Euro im Monat fällig.

"Das durchschnittliche Einkommen alter Menschen liegt aber nur bei 1.700 Euro. Wir haben mittlerweile also eine Situation, in der die Kosten das Einkommen übersteigen." Sein Verband fordere daher eine Pflegevollversicherung, die sämtliche Kosten im stationären Bereich übernehmen solle.

Die Vorsitzende des Sozialverbands VDK, Verena Bentele, kritisierte im Deutschlandfunk die Erhöhung des Pflegegeldes um fünf Prozent als zu gering. "Wer weiß, wie die Preissteigerungen im Moment sind für Lebensmittel, aber beispielsweise auch Hygieneartikel und anderes aussehen, der weiß, dass dieses Pflegegeld überhaupt nicht ausreicht."

De facto könnten sich die Menschen vom Pflegegeld weniger leisten, so Bentele. Sie weist außerdem auf ein Paradoxon hin: Laut einer Hochrechnung des VDK haben sich inzwischen zwölf Milliarden Euro in der Pflegekasse angesammelt, die Pflegebedürftigen zustünden, aber nicht abgerufen würden. Hier müsse nachgebessert werden, so Bentele. Gleichzeitig klafft in der Pflegekasse ein Defizit von mehr als zwei Milliarden Euro.

Eine mögliche Lösung, die unter anderem von CSU- und Grünen-Politikern ins Gespräch gebracht wird: mehr Steuermittel für Pflege. Das blockiert allerdings das Bundesfinanzministerium unter Christian Lindner (FDP). Der grüne Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen bezeichnete diese Tatsache im Deutschlandfunk als "sicherlich auch etwas, das diesen Gesetzgebungsprozess im parlamentarischen Verfahren überschattet".

Der sachsen-anhaltische CDU-Bundestagsabgeordnete Sepp Müller mahnte im Morgenmagazin eine gesamtgesellschaftliche Debatte zur Zukunft der Pflege an. So müsse man zum Beispiel die Frage klären, ob es eine Versicherungspflicht für private Pflegeversicherungen geben solle. Wie bei der Krankenversicherung auch, gibt es bei der Pflegeversicherung das Nebeneinander von gesetzlich und privat.

Lauterbach weist Kritik zurück

Der Gesundheitsminister wies die Kritik aus der Opposition zurück, es handele sich lediglich um eine kleine Reform: "Das ist keine kleine Reform. Wir geben fast sieben Milliarden mehr aus pro Jahr. Das ist eine Zunahme von etwa 12 Prozent."

Bei der Regierungsbefragung im Bundestag am Mittwoch verteidigte Lauterbach den Gesetzentwurf ebenfalls und spielte den Ball zurück zur Union. Vieles sei in den vergangenen Jahren liegengeblieben, wiederholte Lauterbach eine Feststellung seines SPD-Kollegen Boris Pistorius. Der Verteidigungsminister hatte vor Lauterbachs Auftritt Auskunft zu den Plänen seines Ministeriums gegeben.

"Es ist ein guter Kompromiss und wird noch einmal die Pflegekräfte zu Hause stärken", sagte Lauterbach in Richtung der Abgeordneten. Mit dem Gesetz sorge man auch dafür dass praktische Kenntnisse von ausländischen Fachkräften schneller anerkannt werden könnten. Der Minister bekräftigte zudem, die Pflege zügiger digitalisieren zu wollen.

(mit dpa, KNA)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 23. Mai 2023 | 07:30 Uhr

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