Spuren sichern ohne Anzeige Rechtsmedizinerin: "Eine Vergewaltigung ist immer ein Notfall"
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05. Juli 2024, 10:06 Uhr
Wer eine Vergewaltigung erlebt hat, will nicht immer sofort Anzeige erstatten. Das kann viele Gründe haben. Spuren und Beweise können Opfer anonym sichern lassen. Aber nicht in jedem Krankenhaus. Das soll sich ändern.
In diesem Artikel geht es unter anderem um sexualisierte Gewalt. Sind Sie oder eine Person aus Ihrem Bekanntenkreis von Gewalt betroffen? Eine Liste mit Hilfsangeboten finden Sie hier.
- Gewalt gegen Frauen und Kinder ist ein gesellschaftliches Problem in Deutschland.
- Betroffene von Gewalt haben nur selten die Möglichkeit, eine vertrauliche Spurensicherung – eine Spurensicherung unabhängig von einer Anzeige – vornehmen zu lassen.
- Rechtsmedizinerin Ulrike Böhm vom Verein Bellis e.V. in Sachsen schätzt, dass sich das im kommenden Jahr ändern wird.
Im Wahlprogramm der SPD Sachsen taucht sie auf, zwischen vielen, vielen Vorhaben und Leitlinien: Die vertrauliche Spurensicherung. Unter "S wie Schutz" steht: "Wer von einem sexualisierten Angriff betroffen ist, soll in Krankenhäusern bei einer medizinischen Versorgung die Möglichkeit haben, Spuren sichern zu lassen, ohne dass bereits eine Strafanzeige bei der Polizei gestellt wurde", schreibt die Partei. Bemerkenswert ist, dass das kein Standard in Sachsen ist.
Gewalt gegen Frauen und Kinder nimmt zu
Dabei leiden jeden Tag mehr als 700 Menschen unter häuslicher Gewalt und jeden zweiten Tag stirbt eine Frau durch sogenannte "Partnerschaftsgewalt" in Deutschland. Das schreibt die Bundesregierung und beruft sich auf aktuelle Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) aus dem vergangenen Jahr. 70,5 Prozent der Opfer häuslicher Gewalt sind nach dieser Statistik weiblich, während die Täter in dreiviertel der Fälle Männer waren (75,6 Prozent).
Rund 20 Prozent aller in der polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Opfer sind Betroffene von Häuslicher Gewalt. Im Vergleich zum Jahr 2021 gab es in Sachsen im Jahr 2022 einen Anstieg um zehn Prozent der Gewaltstraftaten im Bereich Häusliche Gewalt. Das geht aus dem "Lagebild Häusliche Gewalt Sachsen" hervor, schreibt das Bündnis "Gewaltfreies Zuhause" aus Dresden.
Vertrauliche Spurensicherung
In der Regel wird ein Opfer einer Vergewaltigung erst dann auf Spuren untersucht, wenn es direkt Anzeige erstattet. Aber genau davor scheuen viele Betroffene direkt nach dem Übergriff zunächst zurück – aus Scham oder aus Schock.
Mit der Möglichkeit der anonymen beziehungsweise vertraulichen Spurensicherung nach einer Sexualstraftat können sich Betroffene ohne Anzeigezwang in einer beteiligten Klinik untersuchen lassen. Die Ergebnisse werden anonymisiert aufbewahrt – und können nach erfolgter Anzeige in einem Gerichtsverfahren verwertet werden.
In Deutschland gab es laut PKS im Jahr 2023 126.000 Fälle "gegen die sexuelle Selbstbestimmung". Und das sind nur die Fälle, die angezeigt wurden. Die Dunkelziffer ist weit höher, wie die aktuelle Dunkelfeldstudie zur Viktimisierung von Frauen durch häusliche Gewalt, Stalking und sexualisierte Gewalt bestätigt.
Vertrauliche Spurensicherung ist (noch) kein Standard
Eine vertrauliche Spurensicherung, also ein sehr genaues Sammeln von Spuren und Fotografien, die Übergriffe nachvollziehbar dokumentieren, und zwar unabhängig von einer Anzeige, ist trotzdem kein Standard in Mitteldeutschland. Die Versorgung und welche Strecken hierfür zurückgelegt werden müssen, ist wohnortabhängig.
"Noch", sagt Rechtsmedizinerin Dr. Ulrike Böhm vom Verein "Bellis" in Leipzig. Bellis unterstützt und berät Betroffene, die zum Beispiel Opfer einer Vergewaltigung wurden und ist Teil einer Verhandlungsgruppe im Rahmen der Istanbul-Konvention: "Die Verhandlungen haben die längste Zeit gedauert. Ich schätze, dass sich im kommenden Jahr einiges zum Positiven ändern wird."
In Sachsen gibt es die meisten Anlaufstellen in Mitteldeutschland: Das St. Elisabeth-Krankenhaus und die Rechtmedizin der Uniklinik in Leipzig sowie das Kreiskrankenhaus in Torgau. In Sachsen-Anhalt können sich Betroffene an die Unikliniken in Magdeburg und Halle wenden. In Thüringen gibt es die vertrauliche Spurensicherung erst seit diesem Jahr und bisher nur in Jena.
Sexualisierte Gewalt
Sexualisierte Gewalt ist ein massiver Eingriff in die Intimsphäre einer anderen Person gegen ihren Willen. Sie wird oft als Mittel zur Demütigung und Machtdemonstration angewandt. Bundesweit kommt es jährlich zu etwa 12.000 bis 13.000 Anzeigen wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung – hinzu kommt die Dunkelziffer nicht angezeigter Taten.
Was Betroffene beachten sollten
"Am besten ist es, wenn die Patientin es möglichst zügig nach der Tat schafft, sich hier vorzustellen, bei uns über die Notaufnahme", sagt Anita Mäher vom St. Elisabeth Krankenhaus im Interview mit MDR Investigativ. Und: "Am besten nicht duschen gehen vorher, auch wenn das natürlich unangenehm ist."
Die Kleidung solle auch möglichst nicht gewechselt werden. Wenn das nicht gehe, dann sollte die Originalkleidung mitgebracht werden, damit alle Spuren gesichert werden können.
Vertrauliche Spurensicherung in Sachsen
Leipzig
Uniklinikum Leipzig, Institut für Rechtsmedizin
Johannisallee 28, Haus H
04103 Leipzig
Telefon:0341/9715-100
rechtsmedizin@medizin.uni-leipzig.de
Elisabeth-Krankenhaus, Gynäkologie
Biedermannstraße 84, 04277 Leipzig
Telefon: 0341/3959-7250
betroffene Männer:
Elisabeth-Krankenhaus, Urologische Ambulanz,
Biedermannstraße 84, 04277 Leipzig
Telefon: 0341/3959-7500
Torgau
Kreiskrankenhaus Torgau Johann Kentmann gGmbH
Gynäkologie
Christianistraße 1, 04860 Torgau
Anmeldung Gynäkologie:
Telefon: 03421/77-2550
Vertrauliche Spurensicherung in Sachsen-Anhalt
Magdeburg
Uniklinikum Magdeburg, Institut für Rechtsmedizin
Leipziger Str. 44, Haus 28, 39120 Magdeburg
Telefon: 0391/671-5843
Halle
Uniklinikum Halle
Ernst-Grube-Straße 40, 06120 Halle (Saale)
Telefon: 0345/557-1885 (Montag-Freitag 8 bis 16 Uhr) oder in dringenden Fällen den diensthabenden Rechtsmediziner unter 0345/557-0
Vertrauliche Spurensicherung Thüringen
Jena
Uniklinikum Jena
Am Klinikum 1, Gebäude F2, 07747 Jena
Telefon: 03641/9-397101 (Terminvereinbarung), 03641/9-321220 (Rufbereitschaft Zentrale)
Täter sind oft Menschen aus dem nahen Umfeld
Im St. Elisabeth-Krankenhaus gibt es nicht nur die Möglichkeit eine vertrauliche Spurensicherung für Frauen in der Gynäkologie durchführen zu lassen, sondern auch für Männer, die sexualisierte Gewalt erfahren haben. Hier gibt es speziell geschultes Personal in der Urologie. Zur Spurensicherung können DNA-Proben, Abriebe, Haare, Fasern, Fremdkörper, Blut und Speichelproben entnommen und asserviert werden.
Oft kämen die Täter, oder auch Täterinnen, aus dem nahen Umfeld, sagt Böhm. Es seien Freunde, Partner oder Partnerinnen, Bekannte oder sogar Familienmitglieder. Hier ist die Hemmschwelle höher, eine Anzeige zu erstatten. Schock und Scham würden dazu beitragen, dass Betroffene ihre Wunden deshalb nicht dokumentieren ließen.
Sexualisierte und häusliche Gewalt solle als medizinisches, nicht rein juristisches oder forensisches Problem erkannt werden, sagt Böhm. Dieses Bewusstsein sei erst in den vergangenen Jahren entwickelt worden: "Körperliche Wunden und auch psychische Verletzungen müssen schnell und nachhaltig behandelt werden." Diese Haltung müsse auch in Zukunft gestärkt und kommuniziert werden.
Traumaambulanzen bieten Sofort-Hilfe
Wer etwas Traumatisches, Gewaltvolles erlebt hat, Zeugin oder Zeuge einer Straftat geworden ist, kann sich in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen an die Traumaambulanzen wenden. Ursula Hämmerer ist Oberärztin der Akutpsychiatrie in Chemnitz. Und "die" Traumaambulanz am Klinikum Chemnitz. Sie arbeitet alleine, ein Anrufbeantworter ist während der Therapiezeiten eingeschaltet, den sie jeden Tag abhört.
Es ist erschütternd, wie viele Opfer (sexualisierter Gewalt) es gibt.
Über die Hälfte der Menschen, die sich in der Traumaambulanz in Chemnitz melden, seien von sexualisierter Gewalt betroffen. Ursula Hämmerer sagt: "Es ist erschütternd, wie viele Opfer es gibt."
Eigentlich habe sie für Traumatherapie gar keine Zeit. Aber: "Ich mache es, weil es mich unfassbar wütend macht, dass Opfer sexualisierter Gewalt sonst das ganze restliche Leben mit den Folgen zu kämpfen haben", sagt sie am Telefon.
Was ist ein Trauma?
Ein Trauma ist ein schreckliches, bedrohliches Ereignis, bei denen Personen hilflos und in den meisten Fällen mit Tod, schwerer Verletzung oder mit sexueller Gewalt konfrontiert sind.
Ein seelisches Trauma kann mit körperlichen Leiden durchaus insofern verglichen werden, als auch hier eine Behandlung und Zeit zum Heilen erforderlich ist. Wenn die Seele verletzt ist, bedarf es einer schnellstmöglichen Behandlung, um langfristigen gesundheitlichen und psychosozialen Beeinträchtigungen vorzubeugen", schreibt die Koordinierungsstelle für Traumaambulanzen in Thüringen.
Vergewaltigung ist ein Notfall
Wichtig für Betroffene ist die schnelle und unkomplizierte Hilfe in solch einer Notsituation. Alle Traumaambulanzen in Mitteldeutschland geben an, bei der Antragstellung zu helfen und zeitnah Termine bereitzustellen. In Chemnitz dauert es zwischen einer und höchstens zwei Wochen bis es einen freien Termin gebe, sagt Hämmerer.
Ulrike Böhm von Bellis betont, dass es sich bei einer Vergewaltigung immer um einen Notfall handele: "Wenn ein verstauchter Knöchel ein Notfall ist, was ist dann eine Vergewaltigung?", lautet der Slogan einer Bellis-Kampagne. Und dieser Satz gelte jeden Tag, sagt sie.
Hilfsangebote Das bundesweite Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" bietet unter der Telefonnummer 0 8000 116 016 rund um die Uhr, anonym und in 18 Sprachen Beratung und Vermittlung in das örtliche Hilfesystem an.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR EXAKT | 05. Juni 2024 | 20:15 Uhr
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