Häusliche Gewalt Mangelhaftes Angebot von vertraulicher Spurensicherung in Mitteldeutschland
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11. Juni 2024, 12:16 Uhr
In Deutschland wird jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt. Doch Strafverfahren in diesem Bereich werden häufig eingestellt. Das Problem: die Taten sind schwer nachweisbar. Betroffene stellen aus Angst häufig erst Wochen nach der Tat Anzeige. Dann sind die Spuren nicht mehr nachweisbar. Die vertrauliche Spurensicherung könnte die Beweislage ändern.
- Sandra erzählt, sie habe partnerschaftliche Gewalt erfahren – da sie keine Anzeige erstattete aus Sorge vor Konsequenzen, fand keine rechtsmedizinische Untersuchung statt.
- Seit 2020 kann eine vertrauliche Spurensicherung durchgeführt werden, die nicht an eine Anzeige geknüpft ist.
- Mit der vertraulichen Spurensicherung ist laut Rechtsanwältin Britta Lehnert ein wichtiger Schritt getan, dass Beweise gerichtsfest gemacht werden.
Es habe lange gedauert, berichtet Sandra, bis sie es geschafft habe, sich aus ihrer gewaltvollen Beziehung zu befreien. Sie sei zwölf Jahre lang verheiratet gewesen. Schon bald habe ihr Mann angefangen, gewalttätig gegen sie zu werden, erzählt die Mittvierzigerin. Am Ende habe er sie regelmäßig verprügelt, auch gewürgt. Vor knapp zwei Jahren sei die Situation wieder eskaliert. "Und dann ging die Schlafzimmertür wieder einen Spalt auf, und er kam rein, und ich habe völlig unvermittelt diesen Schlag ins Gesicht kassiert." Sandra wusste sofort, dieses Mal ist die Verletzung ernst. "Ich habe während des Schlages gehört, dass mein Trommelfell reißt. Das klang, wie wenn dicke Pappe zerreißt."
Viele Betroffene wollen keine Anzeige erstatten
Auf die Anfrage von MDR Investigativ, sich zu den Ereignissen zu äußern, reagierte der Mann von Sandra nicht. Stattdessen forderte er Sandra durch seine Anwältin auf, nicht mehr öffentlich zu äußern, er habe ihr körperliche Gewalt angetan. Was sich genau zwischen Sandra und ihrem Mann ereignet hat, kann man daher nicht wissen. Auch kann die Redaktion Sandras Geschichte im Nachhinein nicht überprüfen.
Im Krankenhaus ließ Sandra ihre Verletzung versorgen. Im Arztbericht steht: Riss im Trommelfell nach häuslicher Gewalt, ihr Ehemann sei wohl mehrfach gewalttätig geworden. Der behandelnde Arzt bot ihr mehrfach an, die Polizei zu holen, damit sie Anzeige erstatten könne. Aus Sorge um ihre Kinder, die zu Hause mit dem Ehemann warteten, lehnte sie dies ab. Hinzu kam die Angst, eine Anzeige würde sie noch stärker in Gefahr bringen, sobald ihr Mann davon erfuhr. "Nach dieser Tat habe ich um mein Leben gefürchtet", sagt Sandra. Eine rechtsmedizinische Untersuchung fand daher nicht statt – das wäre in dem Krankenhaus, in dem sie war, eben nur im Rahmen einer Anzeige möglich gewesen.
Nach dieser Tat habe ich um mein Leben gefürchtet
Drei Monate später, nach einem erneuten Gewaltausbruch, geht Sandra doch zur Polizei. Dabei zeigte sie auch andere Taten an, die ihr Mann gegen sie begangen haben soll. Anderthalb Jahre später kam der Bescheid der Staatsanwaltschaft: alle Verfahren wurden eingestellt gemäß § 170 Absatz 2 StPO, also weil kein hinreichender Tatverdacht besteht. Es gab keine gerichtlich verwertbaren Beweise für eine Straftat. Sandras Mann gilt damit als unschuldig. Mit einer Vertraulichen Spurensicherung hätte Sandra der Staatsanwaltschaft gerichtsfeste Beweise liefern können. Das hätte ihre Position im Verfahren deutlich verbessert, davon ist sie heute überzeugt.
Vertrauliche Spurensicherung übernimmt die Krankenkasse
Sandras Verletzung war im Juni 2022. Damals gab es bereits ein Bundesgesetz für eine Spurensicherung ohne Anzeigepflicht. Die sogenannte "Vertrauliche Spurensicherung" wurde 2020 zu einer Leistung der gesetzlichen Krankenkassen. Betroffene von sexualisierter und häuslicher Gewalt sollen so die Möglichkeit erhalten, Spuren ohne Vorstellung bei der Polizei sichern zu lassen, um sie später – sollte es doch zur Anzeige kommen – in einem Verfahren nutzen zu können. Doch an der Umsetzung des Gesetzes hapert es. Auch in Mitteldeutschland gibt es nur wenige Krankenhäuser, die eine anonyme Spurensicherung anbieten.
Eines davon ist das St. Elisabeth in Leipzig. Betroffene von sexualisierter Gewalt können sich in der Notaufnahme vorstellen. Gynäkologin Anita Mähner ist eine der Ärztinnen, die dafür rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Sie gibt Einblick in den Ablauf. "Wir beginnen mit einem Gespräch, um überhaupt aufzunehmen: Was ist passiert? Auch um abzuleiten: was könnten vielleicht Verletzungsmuster sein." Alle Aussagen werden von der Ärztin dokumentiert. "Im Anschluss erkläre ich der Patientin den Ablauf, dass wir uns Körperteil für Körperteil vortasten und dass ich dann eine gynäkologische Untersuchung durchführen würde."
Hilfeangebote für Betroffene von sexualisierter Gewalt
Das Hilfetelefon "Sexueller Missbrauch" unter der Telefonnummer 0800 22 55 530 (kostenfrei) ist eine Anlaufstelle für Betroffene von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend, für Angehörige sowie Personen aus dem sozialen Umfeld von Kindern, für Fachkräfte und für alle Interessierten. Das bundesweite Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" bietet unter der Telefonnummer 116 016 (kostenfrei) rund um die Uhr, anonym und in 18 Sprachen Beratung und Vermittlung in das örtliche Hilfesystem an. Weitere Informationen unter hilfetelefon.de.
Betroffene gewinnen Zeit
Ein solches Prozedere kann bis zu drei Stunden dauern. Die Betroffene kann dabei jederzeit abbrechen. Die Spurensicherung selbst erfolgt mithilfe eines speziell für solche Situationen entwickelten Sets. Beweismittel wie Kleidungsstücke werden in zu versiegelnden Tüten gesichert. Jede Körperstelle, die in Kontakt mit dem Täter oder der Täterin gewesen sein könnte, wird zweimal auf DNA-Spuren abgestrichen. Alle Verletzungen werden in Dokumentationsbögen eingetragen und zusätzlich fotografiert. Archiviert werden die so gesicherten Beweise für ein Jahr von Bellis e.V., einem Verein, der Gewaltbetroffene unterstützt. Der große Vorteil für die Betroffenen: sie müssen nicht sofort zur Polizei gehen, sondern gewinnen Zeit, um sich eine Anzeige gründlich zu überlegen. Und niemand erfährt von der Untersuchung, auch nicht der Ehepartner.
Anita Mähner zufolge kommen in die Notaufnahme des St. Elisabeth bisher hauptsächlich Frauen, die sexuelle Übergriffe in Clubs, auf Festivals oder Partys unter den Einfluss von K.O-Tropfen erlebt haben. Die Fachärztin rät: "Am besten ist es, wenn die Patientin es zügig nach der Tat es schafft, sich hier vorzustellen und nicht duschen geht vorher, auch die Kleidung nicht wechselt, damit einfach alle Spuren gesichert werden können."
Am besten ist es, wenn die Patientin es zügig nach der Tat es schafft, sich hier vorzustellen.
Bis zu einer Woche nach der Tat könnten Betroffene in die Notaufnahme kommen. Je früher die Betroffenen sich vorstellen, desto höher jedoch die Wahrscheinlichkeit, Beweise sichern zu können. Anita Mähner rät immer dazu, auch wenn äußerlich keine Spuren zu erkennen sind. Auch Männer, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, können eine Vertrauliche Spurensicherung im St. Elisabeth durchführen lassen. Dafür stehen speziell geschulte Urologen zur Verfügung.
Krankenhaus kann Leistung nicht abrechnen
Doch das St. Elisabeth-Krankenhaus kann diese Spurensicherung nur nach sexualisierter Gewalt leisten, bei ausschließlich häuslicher Gewalt werden Verletzungen nicht so ausführlich dokumentiert. Die Untersuchungs-Sets werden vom Bellis e.V. gestellt und vom Land Sachsen finanziert. Die Arbeitszeit der Ärztinnen und des Pflegepersonals werden dem St. Elisabeth nicht erstattet, das Krankenhaus bietet diese Leistung pro bono an.
Damit ist die Klinik eine Ausnahme in Sachsen. Weitere Anlaufstellen für Betroffene, um sich ohne Anzeigezwang rechtsmedizinisch untersuchen zu lassen, sind nur noch das Kreiskrankenhaus Torgau und die Rechtsmedizin der Uniklinik Leipzig. In Sachsen-Anhalt können sich Betroffene an die Unikliniken in Magdeburg und Halle wenden.
Mit der Umsetzung des Bundesgesetzes zur Vertraulichen Spurensicherung 2020 sollte diese bundesweit flächendeckend eingeführt werden. Und zwar für Fälle sexualisierter und häuslicher Gewalt. Dafür braucht es Verträge zwischen Krankenkassen, Ländern und medizinischen Einrichtungen. Diese liegen bisher nur Niedersachsen, Bremen und Baden-Württemberg vor. In einigen Ländern funktioniert die vertrauliche Spurensicherung bereits ohne Vertrag, weil Ministerien die Kosten übernehmen. Für Betroffene hängt ein Zugang zur Beweissicherung ohne Anzeigezwang damit vom Wohnort ab.
Vertrauliche Spurensicherung in Thüringen erst seit 2024
Besonders schwierig war die Situation bisher in Thüringen. Bis Anfang 2024 gab es im ganzen Freistaat überhaupt keine Möglichkeit zur vertraulichen Spurensicherung, jetzt kann diese immerhin im Uniklinikum Jena durchgeführt werden. Paradox, wollte das Land doch schon vor 2020 die vertrauliche Spurensicherung einführen und finanzieren. Mit dem Bundesgesetz wurden jedoch die Krankenkassen als Kostenträger verpflichtet.
Die Pläne des Landes waren damit hinfällig. Es musste neu verhandelt werden. Laut Gabi Ohler, Gleichstellungsbeauftragte des Freistaates Thüringen, keine leichte Aufgabe: "Das Schwierige an den Verhandlungen war, dass das Bundesgesetz so schlecht ausgestaltet ist: Wer muss was genau bezahlen? Es ist nicht geregelt, dass die nicht gesetzlich Versicherten davon auch betroffen sind. Es ist nicht geregelt, wer Schulungen bezahlt und so weiter und so fort. Das hat die Verhandlungen ziemlich langwierig gemacht."
Es ist nicht geregelt, wer Schulungen [für die vertrauliche Spurensicherung] bezahlt.
Mittlerweile stehe man kurz vor einem Abschluss. In Thüringen übernimmt nun das Land die strittigen Posten: die Bereitschaftszeiten der Ärztinnen sowie die vertrauliche Spurensicherung für Privat- oder Nichtversicherte. Die Fallpauschale beträgt 439 Euro. Durchführendes Krankenhaus ist zunächst die Uniklinik Jena, später soll das Angebot in die Fläche ausgeweitet werden. Gabi Ohler rechnet damit, dass dieser Vorgang weitere zwei Jahre dauern wird.
Im Zweifel für den Angeklagten
Doch was könnte die vertrauliche Spurensicherung im Strafverfahren tatsächlich ändern? Die Anwältin Britta Lehnert vertritt häufig Gewaltbetroffene. Sie erlebt oft, dass Partnerschaftsgewalt ohne gesicherte Beweise nur schwer nachweisbar ist. Bei Anzeigen komme es dann häufig gar nicht zu einer Verhandlung, die Verfahren würden vorher eingestellt, so wie bei Sandra.
Die Anwältin erklärt das so: "Eine Einstellung nach 170 Absatz II StPO erfolgt, wenn die Staatsanwaltschaft am Ende der Ermittlungen eine Verurteilung nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit für möglich hält. In Deutschland gilt der Grundsatz in dubio pro reo, also im Zweifel für den Angeklagten. Und wenn nicht mehr Beweise zur Verfügung stehen als die Aussage der Betroffenen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass hier eine Verurteilung erfolgt, sehr gering und dann ist häufig am Ende die Einstellung."
Genau deshalb seien in diesem Bereich gerichtsfest gesicherte Beweise besonders wichtig. Auch wenn eine vertrauliche Spurensicherung allein nicht belegen würde, dass der Täter wirklich der Täter war, könne damit zumindest nachgewiesen, dass es beispielsweise Verletzungen und fremde DNA am Körper der Betroffenen tatsächlich gab. Ein wichtiger Schritt, laut Britta Lehnert: "Wenn ein Teil nachweisbar ist, dann sind wir in der Verurteilung natürlich schon viel näher, als wenn wir nur eine Aussage hätten."
Nur einzelne Krankenhäuser bieten das Angebot an
Auch in Sandras Bundesland kann aufgrund fehlender Verträge nur in einzelnen Krankenhäusern sexualisierte Gewalt vertraulich gesichert werden. Spuren häuslicher Gewalt werden auch hier noch nicht ohne Anzeige aufgenommen. Ein Problem für Frauen wie Sandra. Sie haben ohne Anzeige keine Beweise, weder vor Gericht, noch für sich selbst. Denn Täter häuslicher Gewalt überzeugen die Betroffenen oft davon, es sei gar nichts passiert.
Sandra berichtet, was diese Manipulationen mit ihr gemacht haben: "Manchmal fragt man sich: Habe ich mir das nur eingebildet? Hat er recht? Man fängt wirklich an, stark an sich zu zweifeln. Und dieser Zweifel, der macht es einem unmöglich darüber zu sprechen." Auch diese Zweifel hätte eine Vertrauliche Spurensicherung ausräumen können, sagt sie. Unter Umständen hätte sie die Beziehung so schneller beenden können. Das hat sie inzwischen geschafft, aber alle Verfahren sind eingestellt. Ihr Mann gilt weiterhin als unschuldig.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Exakt | 05. Juni 2024 | 20:15 Uhr