
"Bedrohungsmanagement" Deutschland hinkt bei Vorbeugung von Amoktaten hinterher
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19. März 2025, 07:51 Uhr
Sicherheitsbehörden anderer Staaten zielen darauf, gefährliche Gewalttäter aufzuspüren und Radikalisierung entgegenzuwirken – auch mithilfe der Zivilgesellschaft. Zu einem solchen flächendeckenden Bedrohungsmanagement beraten Bund und Länder in Deutschland seit Jahren. Ergebnisse können sie nicht vorweisen. Auch in Mitteldeutschland wird noch überlegt und vorbereitet.
Deutschland hinkt nach Experten-Einschätzung bei der Prävention extremer Gewalttaten wie Amokläufen im internationalen Vergleich Jahre hinterher. Der Bayreuther Kriminologe Manuel Heinemann sagte MDR AKTUELL: "Wir haben aktuell nur bei der Polizei Strukturen für ein Bedrohungsmanagement, und das ist aus meiner Sicht nicht ausreichend." Es fehle die Anbindung an die Zivilgesellschaft. Hinweise auf potenziell gefährliche Personen ergäben sich im sozialen Nahfeld, also bei Arbeitgebern, Sozialämtern oder Schulen. Die Risiken würden dort aber aufgrund fehlenden Wissens häufig nicht erkannt oder erreichten fachkundige Stellen wegen fehlender Abläufe nicht.
Wir haben einen Flickenteppich.
Polizeiarbeit ist Ländersache. Derzeit seien die Regelungen bundesweit sehr unterschiedlich, erklärt Heinemann, der Behörden und Organisationen zu Bedrohungsmanagement berät. "Wir haben einen Flickenteppich, der eine Vergleichbarkeit der Bundesländer gar nicht zulässt. Standards und Ausbildungen sind nicht vereinheitlicht, sodass es jedes Land in irgendeiner Form anders macht."
Was ist Bedrohungsmanagement?
Bedrohungsmanagement ist ein ursprünglich aus den USA stammendes Konzept zur Vermeidung von schweren, zielgerichteten Gewalttaten. Dort etablierte es sich in den 1980er- und 1990er-Jahren als sogenanntes Threat Assessment oder auch Threat Management in Folge von schweren Angriffen auf Personen des öffentlichen Lebens.
Untersuchungen zeigten, dass es in den meisten Fällen bereits im Vorfeld der Tat deutliche Hinweise auf die Übergriffe gab. Dadurch wurde die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit von Frühwarnsystemen für Gewalt erkannt. So entwickelten Fachleute aus der Psychologie oder der Kriminalistik neue Methoden und Instrumente zur Einschätzung bedrohlichen Verhaltens.
Quelle: bedrohungsmanagement-mittelfranken.de
Politik arbeitet seit Jahren ohne öffentlich bekannte Ergebnisse
An einem einheitlichen Vorgehen arbeiten die Länder auf Ebene der Innenministerkonferenz (IMK) seit Jahren. 2020 nach der Amokfahrt von Trier wurde eine erste Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingerichtet. Inzwischen befasst sich eine zweite Gruppe unter dem Titel "Früherkennung und Bedrohungsmanagement" mit dem Thema. Anfang Dezember 2024 nahm die IMK einen Sachstandsbericht des Gremiums zur Kenntnis. Einzelheiten sind nicht öffentlich. Aber im IMK-Protokoll heißt es, die Innenminister begrüßten die "erfolgte strukturelle Bund-Länder-Ist-Stand-Erhebung" und die "festgelegten Meilensteine".
Im Januar, nach den Anschlägen von Aschaffenburg, Magdeburg, Mannheim und Solingen, traf sich die IMK zur Sondersitzung. Als Ergebnis hielten die Minister nochmals fest: "Um solche schweren Straftaten möglicherweise besser zu verhindern, müssen personenbezogene Verhaltensmuster und potentielle Risiken rechtzeitig erkannt, analysiert und bewertet werden. Die IMK ist sich einig, dass es hierzu eines gezielten und ganzheitlichen Ansatzes bedarf und eine bundesweite Vernetzung der Erkenntnisse zwischen Sicherheits-, Gesundheits-, Waffen- und ggf. Ausländerbehörden sichergestellt sein muss." Weiter hieß es, die Länder seien aufgefordert, sich aktiv in oben genannte Arbeitsgruppe einzubringen.
Andere Länder bei Bedrohungsmanagement weit voraus
Andere Staaten verfügen schon lange über ein flächendeckendes, einheitliches Bedrohungsmanagement – auch mit Anbindung an die Zivilgesellschaft. Der Forensische Psychologe Jérôme Endrass von der Universität Konstanz sagte vor wenigen Tagen im Interview, es gäbe unterschiedliche erfolgreiche Formen. Entscheidend sei, dass es sich um eine Verbundaufgabe handele, "die nicht von einer Behörde allein bewältigt werden kann".
Endrass' Heimat, die Schweiz, bietet ein Beispiel. Dort wurde ab 2014 ein Kantonales Bedrohungsmanagement eingeführt und seitdem entwickelt. Unter anderem existieren landesweit Fachstellen für Gewaltschutz. Es gibt Netzwerke von geschulten Ansprechpersonen in den verschiedenen Behörden, von Frauenhäusern über Kliniken bis zu Migrationsbehörden. Die Maßnahmen richten sich gegen verschiedene Gewaltphänomene, gegen potenzielle Amokläufe genauso wie gegen extremistische Attentate oder häusliche Gewalt.
Großbritannien startete umfassende Terror-Prävention vor 20 Jahren
Großbritannien baute sein Bedrohungsmanagement bereits nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf. Nach den Bombenanschlägen in London im Juli 2005 wurde die Präventionsarbeit intensiviert. Das eingeführte Programm "Prevent" hat zum Ziel, die Radikalisierung von Menschen frühzeitig zu entdecken und zu verhindern. Jährlich schätzen spezialisierte Beamte im Rahmen der Initiative bei tausenden Menschen das Risiko einer Radikalisierung ein. Wird ein Risiko erkannt, setzen sich Fachleute der Polizei, von sozialen Trägern sowie aus dem Bildungs- und Gesundheitssystem zusammen, um das Vorgehen abzusprechen.
Bettine Rottweiler ist mit dem Programm vertraut. Sie forschte bis vor kurzem am University College London zu Risiko- und Schutzfaktoren für gewalttätigen Extremismus. Auch aus ihrer Sicht ist die überbehördliche Zusammenarbeit ein Erfolgsfaktor: "Prevent ist ein sehr strukturiertes Präventionsprogramm. Wenn Lehrer, Nachbarn oder andere Personen aus der Gemeinschaft eine gefährdete Person erkennen, gibt es sehr gute Wege, das den Behörden mitzuteilen", sagt sie im Gespräch mit MDR AKTUELL. Dabei gebe es hohe Sensibilität. So seien etwa sämtliche Lehrer in Großbritannien zu dem Thema geschult.
Rottweiler, die inzwischen in den USA am "National Counterterrorism Center" tätig ist, schaut verwundert auf den Zustand in ihrem Heimatland: "Meiner Meinung nach ist so ein flächendeckendes Programm genau das, was es braucht." Die gebürtig aus Baden-Württemberg stammende Expertin sagt weiter: "Besser spät als nie. Aber mich wundert es schon, nachdem wir jahrelang solche Anschläge auch in Deutschland sehen, dass das jetzt erst in die Wege geleitet wird."
Überlegungen und Vorbereitungen in Mitteldeutschland
Wie ist die Lage in der Region? Die Innenministerien in Mitteldeutschland antworteten auf Anfrage von MDR AKTUELL, dass sie sich mit dem Thema Bedrohungsmanagement beschäftigen. Das Ministerium in Magdeburg teilte mit, Sachsen-Anhalt sei in der Bund-Länder-Gruppe vertreten: "Die Befassungen sind zwar noch nicht abgeschlossen, aber Sachsen-Anhalt bereitet parallel Umsetzungsschritte vor."
Das Ministerium in Dresden antwortete, zwei Vertreter wirkten in dem Bund-Länder-Gremium mit. Und weiter: "Zur Einführung des Bedrohungsmanagements wurde eine Arbeitsgruppe unter Leitung des Landeskriminalamtes eingesetzt, welche die konkreten Schritte zur Umsetzung erarbeitet."
Das Thüringer Innenministerium schrieb, dass "intensive Überlegungen zur Einführung eines Bedrohungsmanagements unter Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse" stattfänden. "Eine konkrete Umsetzung hängt von weiteren strukturellen und organisatorischen Planungen sowie von der Abstimmung mit anderen Ressorts ab." Thüringen sei derzeit noch kein Teilnehmer der Bund-Länder-Gruppe. Eine Mitarbeit sei aber in Planung.
Vorreiter Nordrhein-Westfalen
Auch in Deutschland existieren Ansätze für ein ganzheitliches Bedrohungsmanagement. Als vorbildlich gilt in Deutschland das Projekt "Personen mit Risikopotenzial" (PeRiskoP) in Nordrhein-Westfalen. Es wurde 2022 eingeführt. Am Landeskriminalamt wurde eine Zentralstelle geschaffen und auch in allen 47 Kreispolizeibehörden Nordrhein-Westfalens gibt es Ansprechpartner.
Im Rahmen von PeRiskoP prüft die Polizei in NRW das Risiko durch auffällige Personen. In Fallkonferenzen beraten Polizei und weitere Behörden wie Schulen, Gesundheitsämter oder psychiatrische Einrichtungen über das Risikopotenzial und besprechen das langfristig angelegte, stabilisierende Vorgehen.
Erfahrungen von PeRiskoP flossen auch in die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zum Thema ein.
Quelle: polizei.nrw/artikel/erkennen-bewerten-handeln
Schwierigkeiten bei Abstimmung und Datenschutz
Auf die Frage, woran eine gemeinsame Umsetzung von Bund und Ländern bislang scheitert, ging lediglich das Innenministerium in Thüringen ein. Die zentrale Schwierigkeit bestehe "in der Abstimmung zwischen den Bundesländern hinsichtlich einheitlicher Standards und Verfahren". Zudem bestünden "enge rechtliche Grenzen für den behördenübergreifenden Austausch sensibler personenbezogener Daten."
Die Ministerien wiesen in ihren Antworten darauf hin, dass bereits in einzelnen Bereichen Konzepte für ein Bedrohungsmanagement existieren. Das Ministerium in Magdeburg nannte Häusliche Gewalt und politisch-motivierte Gewaltkriminalität als Beispiele. Das Haus in Sachsen nannte zusätzlich die Bereiche Stalking und Sexualstraftäter. Das Thüringer Ministerium sprach von "verschiedenen Instrumentarien zur Gefahrenabwehr und Früherkennung".
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 19. März 2025 | 07:30 Uhr