Literaturauswahl in der Schule Pflichtlektüre im Deutschabitur: Noch zeitgemäß?
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05. Dezember 2023, 06:51 Uhr
Die Literaturauswahl im Deutschunterricht ist ein wiederkehrendes Streitthema. Unser Hörer – Vater einer Abiturientin – kritisiert, dass die Literaturliste ausschließlich Werke umfasse, die Themen wie Brutalität, Mord, Rache oder Terrorismus behandeln. Nicht ein Werk stelle einen positiven Ausblick dar. Gerade nach der depressiven Corona-Phase hält der Vater diese Auswahl für unverantwortlich. Er fragt, wie die Literaturauswahl zustande kommt und ob sie nicht geändert werden sollte.
- In Sachsen gibt es sie, die Pflichtlektüre: Aktuell umfasst die Liste fünf bis sieben Werke.
- Eltern und Lehrkräfte haben Kritik an der Literaturliste.
- In Sachsen-Anhalt und Thüringen gibt es keine streng vorgegebene Pflichtlektüre, sondern Empfehlungen für die Lehrkräfte.
In Sachsen stehen im Grundkurs fünf Werke, im Leistungskurs sieben auf der Literaturliste: "In der Strafkolonie" von Kafka ist dabei, "Medea" von Euripides, Büchners "Woyzeck" und Schillers "Maria Stuart". Gelesen werden sollen Texte mit "literaturgeschichtlicher Relevanz" verschiedener Epochen. Rainer Heinrich vom sächsischen Kultusministerium bestätigt: "Es sind dann häufig auch Dinge dabei, die sich mit Konflikten in dieser Zeit auseinandersetzen und die sind nicht so, dass man sagt, das ist Unterhaltungsliteratur, das liest sich sehr angenehm."
Das findet auch Jens-Uwe Jopp. Er unterrichtet im Schiller-Gymnasium Leipzig. Die Stunden zu "Medea", der antiken Geschichte über die Königstochter, die sich grausam an ihrem verräterischen Mann rächt und dafür sogar ihre Kinder tötet, seien für ihn "Immer wieder eine Herausforderung, den Schülern die Problematik dieser gewaltigen und so brutalen und konsequenten Rache zu vermitteln".
Kritik an der Pflichtlektüre
Unser Hörer meint, da gebe es auch andere Werke, die weniger verstörend seien. Statt der Tragödie "Medea" könnte er sich zum Beispiel die Komödie "Lysistrata" vorstellen, die antike Zeitgeschichte – die Verhinderung eines Krieges durch weiblichen Sex-Streik – ebenso abbilden würde.
Rainer Heinrich vom Kultusministerium gibt zu bedenken. "dass wir überlegen müssen, ob wir unsere Schülerinnen und Schüler von diesen Problemlagen, ja auch mal düsteren Stoffen, fernhalten sollten oder ob die nicht immer auch lebensvorbereitend sind". Denn jeder Dystopie wohne ja auch immer die Utopie inne. Um diesen Aspekt deutlicher hervorzuheben, wünscht sich Lehrer Jens-Uwe Jopp aber mehr Wahlmöglichkeiten.
Sachsen-Anhalt und Thüringen: Empfehlungen statt Pflichtlektüre
Für die letzte Klasse der gymnasialen Oberstufe schreiben 12 von 16 Bundesländern aber die Behandlung bestimmter Werke verpflichtend vor. Sachsen-Anhalt und Thüringen verzichten dagegen trotz Zentralabitur auf Pflichtlektüre und veröffentlichen lediglich Literaturempfehlungen, aus denen die Lehrkräfte wählen können. Deutschlehrer Joop: "Das würde ich unbedingt begrüßen, aber hier zeigt sich der nächste Zielkonflikt, dass auf der einen Seite größere Flexibilität in den Schulen gefordert wird, auf der anderen Seite aber auch wieder mehr Vereinheitlichung."
Denn ein vergleichbares Abitur könne nach sächsischer Auffassung nur durch die Pflichtlektüre sichergestellt werden. Ausgewählt wird sie durch eine Kommission, die vom Kultusministerium auf unbestimmte Zeit berufen wird und die sich dann bundesweit abstimmt. "Es sind in der Regel Lehrkräfte, Experten der anderen Bundesländer und auch Wissenschaftler." Wer dort konkret zusammen kommt, war nicht zu erfahren. Aber Rainer Heinrich betont, alle würden genau darauf schauen, was Abiturientinnen und Abiturienten – auch seelisch – zumutbar sei.
Alle zwei Jahre schafft es ein neues Buch auf die Liste
Es bleibt der prägende Eindruck: Schülerinnen und Schüler müssen sich seit Jahrzehnten mit den immer gleichen Klassikern auseinandersetzen. Die Liste ist männlich geprägt, eurozentristisch und oft düster. Mit Julis Zeh "Corpus Delicti" hat es zumindest eine Frau und ein nur 14 Jahre altes Buch auf die Liste geschafft. In der Regel werde alle zwei Jahre ein Werk ausgetauscht, sagt Rainer Heinrich. Das hat ganz pragmatische Gründe. Neue Unterrichtsmaterialien und Fortbildungen seien nötig, sagt Rainer Heinrich vom Kultusministerium: "Auch das sind Kosten für die Schulträger, die Kommunen, die diese Bücher dann anschaffen müssen."
Dennoch: eine Debatte über verpflichtender Lektüre zum Abitur scheint angebracht, nicht nur im kleinen Kreis derer, die daraus eine Abituraufgabe basteln müssen.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 05. Dezember 2023 | 06:22 Uhr